Kapitel 12: Sicherheitsnetz (4)

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Ich wusste nicht, ob ich mich gegen Kim lehnte oder Kim sich gegen mich- aber sie saß neben mir und erzählte mit einem entrückten Gesichtsausdruck von Paul. Ich erhielt einen detaillierten Statusbericht inklusive Rückschau auf den ersten Kuss der beiden, der nicht in einer schweren Katastrophe geendet war, inklusive einem rosarot gezuckerten Bericht über ein Geburtstagsfrühstück bei den Schwiegereltern in spe und Babynews aus dem Hause Carstens- mit denen Kim zum Glück dann doch noch nichts zu tun hatte. Alles garniert mit einem warmen Leuchten auf ihrem Gesicht, das ihr gut stand. Sie sah- zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr aus München- wirklich durch und durch zufrieden aus. Gut, vielleicht hing das nicht nur mit Paul zusammen. Vielleicht war das auch ein bisschen der Tatsache geschuldet, dass sie sich getraut und immerhin Sina gegenüber ausgesprochen hatte, dass sie erstmal Schluss machen wollte mit dem Turnierreiten. Sina hatte kaum gezuckt- weswegen ich mir sehr sicher war, dass ich nicht der einzige war, der das, was vor einem Jahr noch undenkbar gewesen wäre, in den letzten Monaten hatte kommen sehen. Kim haderte- mit sich und ihrer Reiterei noch mehr als mit dem Rest der Welt. Ich hatte keine Ahnung, ob sie wirklich ernst machen würde mit einem Leben abseits der professionellen Reiterei. Es war schwer vorstellbar. Andererseits- ich guckte zu ihr herunter und registrierte, wie sie seufzend ihre Wange gegen meine Schulter lehnte, einen Arm um meinen Rücken, den anderen Arm um einen Bauch geschlungen- war Kim in letzter Zeit eine echte Wundertüte. Immerhin ließ sie, während sie wie ein glückliches Äffchen an mir hing, sie wie ein glückliches Äffchen an mir hing, die Fragen ruhen, die sie und Felix mir beide mehr als einmal gestellt hatten, nachdem ich mich mit einem Becher Kakao auf das Sofa im Wohnzimmer hatte fallen lassen. Was passiert sei. Was Inga damit zu tun hätte. Was sie verbrochen hätte. Es waren nicht nur die Fragen gewesen, die ich gerade einfach nicht beantworten konnte, sondern gerade die, die ich mit Kim und Felix noch weniger besprechen konnte als mit meinen Freunden. Beide hätten sicherlich irgendwie betroffen geguckt, wenn ich davon erzählt hätte, was Inga in Berlin auf den Tisch gelegt hatte- aber sie hätten es nicht wirklich verstanden. Ich war nicht arrogant genug um zu glauben, dass mein Zwanzigjähriges Ich mein aktuelles Ich verstanden hätte. Ich war mittlerweile einfach eine lange Beziehung inklusive Hoch- und Tiefs und den damit einhergehenden Hoffnungen weiter. Ich hatte mich trotz und wegen Inks und meiner Fehler immer wieder für uns entschieden, so schmerzhaft es manchmal auch gewesen war. Und ich hätte es- wenn sie mir die denn Chance gegeben hätte- sofort wieder getan. Das waren Dinge, die Kim und Felix noch nicht verstehen konnten. Ich wollte deswegen gar nicht erst versuchen, Kim davon zu erzählen, was die schmerzhaftesten Nachwehen meines Kurztrips nach Berlin waren. Trotzdem- oder vielleicht auch gerade deswegen- spürte ich, wie ihr Gewicht an meiner Schulter meine Anspannung nachhaltig nach unten drehte.

„Er ist so toll.", murmelte sie irgendwann versonnen in einen ruhigen Moment hinein und als ich ihr ins Gesicht sah, lächelte sie verklärt. Ihr Körper machte offensichtlich gerade einen sehr anderen Ausnahmezustand durch als meiner. Während sie den Dopaminrausch ihres Lebens zu haben schien, merkte ich erst jetzt, während Kakao, das leise Schnarchen aus Felix Schlafzimmer und Kims Körperwärme auf mich einwirkten, wie Noradrenalin und Cortisol langsam gerade so weit absanken, dass ich zum ersten Mal seit Wochen echte Müdigkeit statt bloßer Erschöpfung fühlte. Sachte schubste ich sie deshalb von mir und stand auf. „Alter, kein Wunder, dass du noch nicht schläfst. Du bist ja voll im Hormonrausch. Genieße du deinen Trip. Ich bin immer noch dabei meinen Kater auszukurieren."



Obwohl es fast drei gewesen war, als ich ins Bett gefallen war, wurde ich pünktlich um 6 Uhr davon wach, dass eine Tür leise quietschte. Ich hörte mit halben Ohr zu, wie Julian und Sina nacheinander duschten und wie Julian Frühstück machte, während Sina schon zur Morgenrunde durch den Stall aufbrach. Ich hatte meine Tür nur angelehnt- was ich noch nie getan hatte. In der letzten Nacht allerdings hatte ich plötzlich dieses absurde Bedürfnis gehabt. Als wäre ich mit einem Mal drei, vier Jahre alt und hätte Angst alleine im Dunkeln gehabt. Gut, daran hatte es natürlich nicht gelegen. Das wusste ich auch. Ich hatte Angst vorm Alleinsein in einer Dunkelheit gehabt, die mich in den letzten Wochen in meiner Wohnung überwältigt hatte. Ich konnte nicht mehr mit- oder in- meinem Kopf alleine sein. Hier zu sein und plötzlich wieder in dieses Geflecht eingewoben zu sein, das atmete, lebte und einen ganz eigenen Herzschlag hatte, nahm mir die Angst vor einem Absturz, wie ich ihn beim Alleinsein gehabt hatte. Hier würde das nicht passieren. Hier- ich atmete tief in mein Kissen ein- würde das einfach nicht passieren. Langsam richtete ich mich im Bett auf, die Decke immer noch um die Schultern gewickelt und warf einen Blick in die Spiegeltür des Kleiderschranks. Eine müde, nach wie vor unrasierte Version von mir schaute zurück und ich ächzte leise, als ich mir eingestand, dass ich aussah wie überfahren. Es würde mehr als nur eine heiße Dusche brauchen, um wieder normal auszusehen. Ein paar Nächte Schlaf, eine Rasur, einmal Friseur, ein echtes Frühstück und Sonnenlicht wären ein Anfang.

Überrascht hob ich den Kopf, als ich ein leises Klopfen an meiner halboffenen Tür hörte. „Hey." Sina stand in Jeans und dunkelgrauem Pulli in der Tür und musterte mich mit schiefgelegtem Kopf.

„Schon fertig im Stall?"

„Ist ja nur ein kurzer Check morgens." Sie musterte mich ähnlich skeptisch wie ich eben mein eigenes Spiegelbild betrachtet hatte. „Deine Tür war auf.", stellte sie dann fest.

Ich nickte und wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.

„Ich wusste nicht, ob das vielleicht eine Einladung sein soll oder ob du zu erledigt warst, um deine Tür richtig zuzumachen. War ja noch spät gestern." Sie schmunzelte und ich rang einen Moment mit mir, bevor ich antwortete.

„Vielleicht ist es eine Einladung.", sagte ich zögerlich.

„Dachte ich mir." Sie stieß sich vom Türrahmen ab und ließ sich neben mich auf mein Bett fallen. Ich hatte noch immer meine Decke um die Schultern gewickelt, was Sina nicht davon abhielt, mich inklusive Bettdecke an ihre Seite zu ziehen. „Ich habe dich gestern gar nicht richtig begrüßen können. Kim und Felix haben dich schneller in Beschlag genommen, als ich blinzeln konnte."

Ich nickte stumm und hielt still, während sie mir einen verspäteten- und seltenen- Begrüßungskuss auf die Wange gab. „Gut, dass du hier bist. Du siehst absolut scheußlich aus. Was ist passiert?"

Sie stellte diese simple Frage gewohnt direkt. Ewig herumzurätseln war nicht ihr Stil. Dazu hätte ihr auch einfach die Geduld gefehlt. Also fragte sie- und sah mich mit einem aufmerksamen Blick an.

„Viel.", antwortete ich wahrheitsgemäß und versuchte zu lächeln. Es geriet wackelig, aber immerhin blieben meine Augen trocken und ich spürte keinen verräterischen Schmerz in meiner Kehle. Der Felsblock war trotzdem innerhalb eines Sekundenbruchteils zurück.

„Viel? So viel, dass du erst ein Frühstück brauchst?"

Ich schüttelte den Kopf und suchte auf ihrem Gesicht lange nach der Antwort, die ich brauchte, um erzählen zu können. Ich musste einfach wissen, dass sie damit würde umgehen können, auch, wenn ich nicht einmal wusste, was ich dafür von ihr wirklich brauchte.

„So viel, dass ich Julian dazu holen soll, damit du nicht zweimal reden musst?", schob sie hinterher, als sie bemerkte, wie ich zögerte.

Ich schüttelte nochmal den Kopf und wickelte die Decke fester um mich, bevor ich anfing zu sprechen. Bevor ich davon erzählte, dass ich nach Berlin gefahren war. Bevor ich davon erzählte, dass ich Inga getroffen hatte. Davon, dass sie wieder kurze Haare hatte. Davon, dass es ihr so offensichtlich nicht gut ging, dass ich es kaum ertrug. Davon, dass sie mich verlassen hatte, weil sie glaubte, ein Risikofaktor in meiner Glücksgleichung zu sein. An der Stelle rutschte Sina von meinem Bett herunter und ging vor mir in die Hocke. Sie stützte ihre Ellbogen auf meinen Knien ab und schlang ihre Hände um meine Unterarme, bevor sie aussprach, was für mich am schmerzhaftesten war.

„Sie hat das ohne dich entschieden.", sagte sie leise.

Ich nickte, rang nach Luft, wollte sprechen und tat es dann doch nicht. Meine Stimme hätte nicht gehalten. Mir wären Tränen über die Wangen gelaufen, wie am Abend zuvor. Also blieb ich stumm und schluckte herunter, was ich noch nicht aussprechen konnte.

Sina löste eine Hand von meinem Ellbogen, legte sie bestimmt in meinen Nacken und zog mich nach vorn, bis meine Stirn gegen ihre stieß. „Sie hätte mir dir reden sollen.", sagte Sina und kraulte dabei fest meinen Nacken. „Bevor sie dich verlassen hat. Es gibt doch tausend Wege, glücklich zu sein. Ob mit oder ohne Kind."

Ich presste meinen Kiefer aufeinander, meine Augen zu und hielt die Luft an, weil sie dem nächsten wunden Punkt näher kam, als mir lieb war.

„Ist ihr das eigentlich klar?", fragte Sina und ich hörte ehrliches Erstaunen in ihrer Stimme. „Ich meine, weil..."

„...weil sie quasi Erfahrung hat mit alternativen Familienmodellen?" Meine Stimme hielt so gerade und ich spürte, wie Sinas Finger in meinem Nacken fester zupackten, bevor ich das Pflaster abriss. „Hat sie. Deswegen will sie nicht."

„Weil es bei uns so schrecklich gelaufen ist?" Für einen Moment lang war Sina auf eine belustigte Art und Weise ungläubig, aber ich spürte keinen Wimpernschlag später, wie sie mich losließ und mich fassungslos anstarrte. „Das ist nicht ihr Ernst, oder?"

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Schönes Wochenende, ihr Lieben :)

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