Kapitel 9: Blau (7)

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Der Ärztemarathon, auf den Ink sich in den folgenden Wochen begab, war so anstrengend wie unbefriedigend. Hausarzt, Hautarzt und ihr Frauenarzt bescheinigten ihr beste Gesundheit- und trotzdem hatte ich, wenn ich vom Schreibtisch in die Küche lief, einen dicken Teppich ihrer Haare an meinen Socken kleben. Sobald sie das Haus verließ, saugte ich die ganze Wohnung, weil ich wusste, wie der Anblick ihrer Haare auf dem Boden, auf dem Sofa, im Bad und auf dem Kopfkissen ihr jedes Mal aufs neue wehtat. Das Kämmen und Waschen allerdings konnte ich ihr nicht abnehmen. Wenn sie danach aus dem Bad kam, versank sie entweder direkt schweigend im Bett oder sie rollte sich vor dem Fernseher ein und ließ sich ablenken. Noch öfter saß sie allerdings vorm Laptop und suchte nach Erklärungen. Sie schluckte ziemlich schnell mehr Nahrungsergänzungsmittel an einem Tag als ich in meinem ganzen Leben je genommen hatte. Ein paar davon hatte ihr Hausarzt zumindest abgesegnet und ein paar andere vermutlich der Hautarzt. Was den Rest anging, hoffte ich, dass sie sich damit nicht mehr schadete als nützte. Als ich sie vorsichtig darauf ansprach, erzählte sie mir in einem scharfen Unterton, der jedes weitere Anzweifeln ihrer Maßnahmen verbat, dass sie das mit ihrer Mutter absprach. Die Frage, ob die beiden sich wirklich sicher seien, dass dieses Tablettenarsenal der richtige Weg war, verkniff ich mir. Nicht zuletzt, weil auch mich mit der Zeit echte Angst beschlich. Es waren wirklich nicht nur die Haare, es war so viel mehr. Ingas Neurodermitis breitete sich erst auf ihren Armen, dann auf ihrem Oberkörper aus. Als sie über den Hals langsam dem Gesicht näher kam, versteckte Inga sich hinter ihrem dicksten Wollschal. Sie kratzte nicht, da war sie eisern, aber es machte sie trotzdem wahnsinig. „Bald bin ich gescheckt und kahl.", sagte sie mehr als einmal, wahlweise wütend oder unter Tränen und ich brauchte eine ganze Weile, bis ich wirklich verstand, dass sie sich für hässlich hielt und noch länger brauchte ich, um zu verstehen, dass sie deswegen morgens aus dem Bett schoss und sich anzog und schminkte, bevor ich meine Kontaktlinsen reintun konnte. Ich war mehr als einmal versucht ihr zu sagen, dass meine Augen noch lange nicht so schlecht waren, dass ich sie ohne Kontaktlinsen nicht mehr richtig hätte sehen können, aber dann ließ ich es, weil ich mich ernsthaft fragte, ob sie dann nachts ins Wohnzimmer auswandern würde. Sie schlief auch so schon mies- und ohne Kaffee hielt sie am Nachmittag keine Vorlesung mehr durch. Dabei zuzusehen, wie sie in der Bibliothek saß und sich beim Lernen immer wieder kniff, um ihre Augen offen halten zu können, fand ich bedenklicher als einen dünneren Zopf oder rote Stellen auf ihrer Haut.



An einem solchen Freitagnachmittag vor den Weihnachtsferien klappte ich pünktlich um fünf meinen Laptop zu, sortierte die Lehrbücher wieder in die Regale und legte, als ich an unsere Plätze zurückkam, meine Hand von hinten auf ihre Schultern.

„Lass uns Feierabend machen, Ink.", sagte ich leise, obwohl der Lesesaal schon so leer war, dass es eigentlich unnötig war, die Stimme zu senken.

„Bin noch nicht fertig."

„Man ist nie fertig.", erwiderte ich und ließ meinen Daumen mit Druck über die feste Muskulatur in ihrer rechten Schulter streichen. Sie lehnte sich fest dagegen und seufzte geschlagen, bevor sie die Hausarbeit, an der sie schrieb, abspeicherte und ihren Computer herunterfuhr.

„Vielleicht."

„Die anderen gehen heute was trinken. Wir könnten mal wieder mit.", schlug ich vor.

„Ich mag nicht."

„Ink..."

„Ich mag nicht, Lukas." Sie schüttelte den Kopf. „Du kannst gehen, aber ich bleibe zuhause."

„Und grübelst dich kaputt."

„Ich mache Yoga- zur Entspannung." Sie wandte sich zu mir um und verdrehte die Augen. „Ich werde mich also nicht kaputtgrübeln, weil ich meine Gedanken kommen und gehen lassen werde, ohne sie zu bewerten." Unsanft stopfte sie ihren Laptop zurück in seine Hülle und warf mir dabei einen bitteren Blick zu. Sie hasste diese verordnete Entspannung, zu der ihr Hausarzt ihr geraten hatte. Nachdem ihr Blut ihm nicht erzählt hatte, was nicht stimmte, hatte er auf Stress als Ursache getippt. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Noch weniger wusste ich, was ich davon halten sollte, dass Inga auch gleich ihre Pille gewechselt hatte, nur um auszuschließen, dass ihr Haarausfall eine Nebenwirkung davon war. Ich fand das Rätselraten wahnsinnig- und gleichzeitig hatte ich keine bessere Idee als vielleicht mal abzuwarten und nicht tausend Maßnahmen gleichzeitig zu ergreifen.

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