Pia
Es wäre einfacher gewesen, mich rauszureden. Vage zu bleiben. Aber dann fasste ich mir ein Herz und erzählte, wie sich das Vermissen von hinten angeschlichen hatte und mich überwältigt hatte. Davon, wie dieser Nachmittag im Stall einem großen, erleichterten Luftholen gleichgekommen war. Aber auch von dem Kater, der mich eingeholt hatte, bevor Lukas hergekommen war und schließlich auch vor der Angst, mit dem Nachhall des Tages alleine zu sein. Ich vermied es, ihn anzusehen, während ich das erzählte und er forderte es auch nicht ein. Allein dafür wollte ich, dass mir die Entscheidung für ihn leichtfiele. Der Daumen seiner freien Hand malte stumme Kreise auf meinem Schulterblatt und ich konzentrierte mich auf diese Bewegung, bis ich alles gesagt hatte, was ich gerade aussprechen wollte. Offenheit fiel mir schwer und ich wusste wieso. Nach dem Unfall war ich nicht stark genug gewesen, um darüber zu sprechen. Ich hatte weitergemacht und mich möglichst selten nach dem „davor" umgedreht. Es hatte weitergehen müssen, das hatten mir alle gesagt. Das hatte ich verinnerlicht- und es war weitergegangen. Tränenarm, strukturiert und zielgerichtet. Ich hatte den Kopf nicht hängen lassen, ganz so, wie man sich das erhofft hatte. Sogar Kim und Paul hatte ich damals darüber zurückgelassen. In der Schule und auch im Studium hatte noch nie eine Rolle gespielt, dass ich meine Mutter verloren und nur einen bedingt tauglichen Vater hatte, weil ich dem keinen Raum gab. Ich wollte nicht darauf gestoßen werden. Nur ich, einfach nur Pia zu sein, war mir wichtig. Aber manchmal, so wie an diesem Tag, funktionierte es eben nicht. Dann war ich nicht nur einfach ich, sondern ich mit aufgeschürfter Haut und blauen Flecken, die man besser nicht falsch anfasste.
„Rufe mich in Zukunft doch einfach an.", sagte Lukas nach einem langen Moment der Stille. „Du musst damit nicht alleine sein."
„Ich bin dann unausstehlich.", seufzte ich und zog die Schultern bis zu meinen Ohren hoch. Die Vorstellung, ihn mit dieser unzufriedenen, launischen und verweinten Version von mir zu konfrontieren, behagte mir nicht. So gut es sich anfühlte, dass er mich verstand, dass ich ihm so viel weniger erklären musste, so sehr wollte ich, dass er mich als die sah, die ich sein wollte.
„Das ist okay. Damit kenne ich mich aus."
„Mit Wutausbrüchen? Ich kann austeilen.", warnte ich nochmal, aber Lukas legte er nur den Kopf schief.
„Ich habe Sina mal die Treppe runtergestoßen.", sagte er dann unvermittelt- und ich verschluckte mich vor Schreck.
„Du hast was?!" Fassungslos und hustend starrte ich ihn an. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, dass er das getan hatte.
„Sie hatte Regeln aufgestellt. Sie sagte, das sei ihre Aufgabe, weil ich ihr Kind sei. Und das habe ich anders gesehen." Seine Mundwinkel zuckten, ganz, als ob ihn der geschockte Ausdruck auf meinem Gesicht amüsierte.
„Du hast sie eine Treppe runtergestoßen?", wiederholte ich langsam.
„Nur halb absichtlich.", sagte Lukas und wurde ernst. „Aber wenn du mich fragst, ob ich mich mit Wutausbrüchen auskenne, dann ja. Und mit der Schuld und dem Vermissen und dem Alleinsein." Er lächelte nicht, er erwiderte nur meinen Blick. Und ich ergriff die Gelegenheit. Ich streckte meine Hand nach seinem Unterarm aus und schloss meine Finger vorsichtig darum. Der Stoff seines Hoodies trennte meine Haut von seiner. Es brauchte keine Worte meinerseits, damit er verstand. Er schob meine Hand beiseite, aber nur, um sich den Pulli über den Kopf zu ziehen. Das T-Shirt, dass er darunter trug, gab den Blick auf seine Arme frei- und ich berührte seinen linken Unterarm, ließ meine Fingerspitzen über die Haut fahren und machte mich mit der Erinnerung an eine Zeit vertraut, die Lukas genauso sorgsam dosiert mit mir teilte wie ich meine nicht ganz so aufgeräumte Seite mit ihm. Er ließ mich gewähren, bis meine Finger an seinem Handgelenk ankamen, dann griffen seine Finger nach meinen und er hielt sie fest.
„Okay?", fragte er leise. Seine Augen verrieten, dass er mir eigentlich sagte, dass es genug war.
Ich nickte, bevor ich meine Finger fest mit seinen verhakte und mich über ihn drehte. Ich wollte nicht mehr reden. Ich wollte mir nur sicher sein, spüren, dass das, was ich zwischen uns gespürt hatte, bevor er nach Balve gefahren war, noch da war. Ob die Chemie zwischen uns, über die wir so gelacht hatten, noch stimmte. Und wie sie das tat. Wenn ich Lukas überrumpelt hatte, ließ er es sich nicht anmerken Er erwiderte den Kuss, als ich meine Lippen auf seine schob und ihn küsste und ich wurde mutiger, obwohl ich seine Worte immer noch im Ohr hatte. Er meinte er ernst mit mir. Er nähme mich ernst. Deswegen hatte er eigentlich nach Hause fahren wollen. Trotzdem seufzte er wohlig, als ich mich schwer mit meinem ganzen Körpergewicht der Länge nach an ihn schmiegte. Seine freie Hand rutschte von meinem Rücken zu meinem Po und ich registrierte zufrieden, wie er seine Finger in die Gesäßtasche meiner Jeans schob. Die neue Vertrautheit zwischen uns knisterte und kribbelte so angenehm, dass ich den Moment konservieren oder die Zeit anhalten wollte.
Auch, oder vielleicht gerade, als es längst draußen vor dem Fenster zu dämmern begann und ich mich schlaftrunken an Lukas Seite kuschelte, während er mit längst geschlossenen Augen meinen Nacken streichelte.
„Ich hatte genug Bedenkzeit wegen uns in den letzten Stunden. Ich will das mit uns versuchen", flüsterte ich, als ich spürte, wie er fast in den Schlaf abglitt und seine Finger langsam aufhörten sich zu bewegen. Er blinzelte schwerfällig und wollte etwas sagen, aber ich kam ihm zuvor. „Du weißt, dass ich schnell denken kann.", murmelte ich und schob meinen Arm sicherheitshalber über seinen Bauch, ganz, als könnte ich ihn so festhalten. „Und ich kann meine eigenen Entscheidungen treffen und davon, dass du Bedenkzeit willst, war nie die Rede." Und ich hoffte inständig, dass er sie sich nicht insgeheim erhofft hatte. Aber Lukas protestierte nicht. Stattdessen wandte er mir sein Gesicht zu und trotz der bleiernen Müdigkeit stolperte mein Herz unsanft gegen meine Rippen.
„Kein Protest?", fragte ich leise und ungläubig. Ich hatte damit gerechnet, dass er die Trumpfkarte ziehen würde- das Kind, seine Tochter- und mich auf die Bedeutungsschwere meiner Entscheidung hinweisen würde.
„Ich hatte mich schon entschieden, bevor ich hergefahren bin. Von daher..." Er zog mich noch dichter an sich, drückte mir einen zufrieden Kuss auf die Stirn und schmunzelte. „...absolut kein Protest."
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So Leute. Da bin ich wieder. Nach unerwartet langer Zeit und langem Gegrübel. Und ich habe es nichtmal kaputt gemacht mit den beiden. 😉
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Lieblingstag
Teen FictionInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...