Pia
Ich sah erst am späten Sonntagmorgen, dass Lukas geschrieben hatte. Die Nachricht las ich mir nicht durch, nachdem ich mit einem kurzen Blick erfasste, wie lang sie war. Stattdessen kroch ich zurück unter die Bettdecke. Die Dinge waren also kompliziert. Mal wieder kompliziert. Mehr wollte mein Verstand in diesem Moment nicht erfassen. Dazu hatte ich am Samstag zu lange gebangt und auf eine Antwort von ihm gewartet. Ein schöner Abend mit ihm, spätestens dann brach das Chaos wieder los. Das hatten meine Mitbewohner am Vorabend lange mit mir über Sommerrollen mit Erdnusssauce wortwörtlich durchgekaut. Der gutgemeinte Ratschlag, dass ich es doch auch einfacher haben könnte, wenn ich denn wollte, war wiederholt ausgesprochen worden. An diesem Rat störten mich zwei Dinge. Zum einen wusste ich nicht, ob ich es wirklich einfacher haben wollte. Zumindest wusste ich nicht, welchen Preis ich dafür zahlen wollte. Zum Anderen war ich mir nicht so sicher, ob ich es wirklich unkomplizierter haben könnte. Wenn ich an Viktor oder Niklas dachte, dann assoziierte ich mit keinem von beiden das Wort „unkompliziert". Bruno, Martin und Jasja hatten alle drei darauf beharrt, dass meine Stichprobe absolut nicht repräsentativ war, aber nachdem ich mit finsterer Miene davon erzählt hatte, wie mein bester Freund gerade seine Beziehung gefleddert hatte, hatte sich keiner mehr getraut, mir zu widersprechen. Paul. Der Gedanke an ihn stresste mich mehr als die bevorstehenden Klausuren. Frustriert schlug ich die Bettdecke wieder zurück und setzte mich widerwillig auf. Das war das Stichwort: Klausur. Ich musste lernen. Mit einem kurzen Umweg über Badezimmer und Küche ging ich an meinen Schreibtisch, wo ich mich mit Müsli und Kaffee über den Lernstoff beugte. Für Stunden tat ich das, worin ich meistens wirklich gut war und schob alles Unangenehme beim Lernen in die hintere Ecke meines Gehirns. Es drückte noch so lange latent unangenehm gegen meine Schläfe, bis ich eine Kopfschmerztablette nahm – danach verstummte das Hintergrundgeräusch, dass die ungelesene Nachricht von Lukas auslöste. Die Angst, mich in den Prüfungen zu blamieren, tat ihr übriges- und so zuckte ich am frühen Nachmittag erschrocken zusammen, als mein Handy klingelte.
Die Mistflecken aus Calvins Fell bürsten zu wollen, war hoffnungslos und irgendwann gab ich auf. Ich sattelte, zog meine Stiefel an winkte dann erleichtert Helena zu, die in der Stallgasse auf uns zukam.
„Hi.", sagte ich und versuchte, nicht so nervös zu klingen, wie ich war.
„Hi." Sie lächelte mir zu, schob Calvin ein Leckerchen zu und ließ einen kurzen, aber doch unverkennbar prüfenden Blick über ihr Pferd gleiten. „Schön, dass es so spontan geklappt hat. Damit hatte ich gar nicht gerechnet."
Ich auch nicht. Es war Helena gewesen, die mich beim Lernen gestört hatte. Sie hätte wenig Zeit, ob ich nicht spontan ihre Reitstunde übernehmen wolle. Wenn auch das gut klappen würde, könnte ich mich in Zukunft doch auch alleine um Calvin kümmern, wenn sie es nicht zum Stall schaffte. Angesichts der langen ungelesenen Nachricht auf meinem Handy hatte ich die Chance mich abzulenken nicht ausgeschlagen, hatte mich ins Auto gesetzt, war in den Stall gedüst und hatte schon damit angefangen, Calvin fertig zu machen. Ich hatte jedem, der mich mit dem Schimmel auf der Stallgasse gesehen hatte, erzählt, dass Helena gleich kommen würde und ich wahrscheinlich die neue Reitbeteiligung wäre. Entweder hatte Helena ihre Stallkollegen schon vorgewarnt oder ich wirkte vertrauenserweckend, denn ich wurde zwar misstrauisch beäugt, aber immerhin nicht vom Hof gejagt. Wir quatschten kurz, während ich trenste, dann schickte Helena mich auf den Dressurplatz und nutzte die Zeit, in der ich Calvin Schritt gehen ließ, um das Futter vorzubereiten. Sie, von der anstehenden Klausurphase nicht weniger gestresst als ich, schien wirklich entschlossen, die Zeit optimal zu nutzen.
Helenas Reitlehrer war kein Mann der vielen Worte. Er war alt, sicher über siebzig, und stellte sich mit seinem Nachnamen und der Information, dass er nicht nur Reitlehrer, sondern auch Richter war, kurz und effektiv vor. Er duzte mich, und er sprach so leise, dass ich befürchtete, ihn niemals am anderen Ende des Reitplatzes verstehen zu können. Er stellte keine Fragen dazu, was ich bisher so geritten sei und als ich ihm trotzdem mit zwei Sätzen davon erzählen wollte, winkte er fast ungehalten ab. „Wir werden gleich schon alles wichtige sehen. Der Rest interessiert nicht."
„Okay.", murmelte ich zurück und fühlte mich doof. Ich war mir mit einem Mal nicht mehr so sicher, ob es die beste Idee gewesen war, Calvin zu reiten- und dann auch noch im Unterricht. -Das Gefühl, hielt an, als ich Calvin antrabte und versuchte ihn so zu lösen, wie ich es früher gelernt hatte. Wie schon beim letzten Mal drückte Calvin mal gegen den inneren und mal gegen den äußeren Schenkel und ich versuchte dennoch ruhig und konsequent meine Linie zu reiten. Herr Baaten sah schweigend und mit zusammengezogenen Augenbrauen zu. Er legte keinen Widerspruch ein, als ich Calvin am langen Zügel angaloppierte, in den leichten Sitz ging und den Schimmel ganze Bahn gehen ließ. Der brauchte zwei, drei Aufforderungen, dann nahm der den Schenkel besser an und schnaubte er zum ersten Mal durch.
„Und Handwechsel.", hörte ich schließlich den ersten Kommentar, parierte durch, wechselte durch die ganze Bahn und galoppierte beim Erreichen der Ecke wieder an. Calvin nahm die Hilfe gehorsam an und ich spürte, wie sich zumindest ein Teil meiner Anspannung löste. Der Wallach war vielleicht nicht so durchgearbeitet wie Niro zu seinen besten Zeiten, aber er gab mir trotzdem ein gutes Gefühl, genau wie beim letzten Mal. Erleichtert atmete ich selbst durch und lobte Calvin, als der weiter fleißig durchsprang, als ich mich wieder richtig in den Sattel setzte.
„Gut.", hörte ich aus der Bahnmitte. „Dann pariere mal durch und nimm die Zügel auf. Und dann gucken wir uns mal an, was wir aus euch beiden machen können."
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Und? Ist das ein Sympath? Und macht Pia die Sache mit dem Ablenken richtig?

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Lieblingstag
JugendliteraturInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...