Kapitel 3: Spannungsüberschlag & Funkenflug (3)

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Wir waren fast eine halbe Stunde schweigend gefahren, als Julian endlich am Rande eines Wohngebietes vor einem dunklen, in die Jahre gekommenen Haus parkte. Kim, die beharrlich schwieg und immer noch rote Augen hatte, verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Unterlippe vor. Sie brauchte nicht auszusprechen, dass sie nicht aussteigen wollte. Felix schlief neben ihr auf dem Rücksitz und ich starrte auf das Einfamilienhaus mit den kleinen Fenstern direkt vor mir. Es hatte etwas bedrückendes. Die große, dunkle Tanne im Garten, die hohe Hecke und der graue, in die Jahre gekommene Mercedes, der vor der Haustür aus dunklem Holz stand, rundeten den Eindruck, dass Haus sei aus der Zeit gefallen, ab.

„Hier wohnt meine Mutter.", sagte Julian an mich gewandt und zog sehr langsam den Schlüssel ab. Der Blick, den er dem Haus zuwarf, war nicht weniger düster als meiner. Als ich nicht antwortete und Kim weiterhin regungs- und wortlos auf der Rückbank verharrte, stieg Julian schwerfällig und mit einem tiefen Seufzen aus. Er öffnete die hintere Tür und hob Kim aus dem Auto. Sie sprach immer noch nicht und als er sie auf der Treppe vor der Haustür absetzte, zeigte sie ihm den Mittelfinger. Fast hätte ich gelacht. Fast. Meine Füße fühlten sich bleischwer an, als ich sie aus dem Auto schwang und widerwillig meine Taschen aus dem Auto räumte. Ich wollte nicht hier sein und noch weniger wollte ich gleich einer fremden Frau die Hand geben und mich bei ihr einquartieren. Und dann wieder ausziehen. Weil ein tolles Wohngruppenzimmer schon auf mich wartete. Möglichst langsam schlurfte ich der Haustür entgegen, als eine ältere Frau die Tür öffnete. Sie war ein bisschen rundlich und hatte dunkelgraue, kinnlange Haare, die irgendwann einmal braun gewesen sein könnten. Sie umarmte Julian und beugte sich dann zu Kim herunter, die den Trick mit dem Mittelfinger gleich ein zweites Mal ausprobierte.

„Lass das, Kim!" Julian schüttelte den Kopf und deutete auf mich. „Das ist Lukas. Lukas, das ist meine Mutter."

Ich blieb mit Sicherheitsabstand stehen und hob schweigend meine Hand, weil ich einfach nichts mehr zu sagen hatte. Ich half danach auch nicht beim Ausladen der Sachen, weil ich nicht daran beteiligt sein wollte, hier einzuziehen. Außerdem fühlte es sich verdammt nach Verrat an. Sina hatte geweint beim Abschied und ich hatte nicht den Eindruck gehabt, dass sie einverstanden damit war, dass Julian Felix, Kim und mich quasi zwangsumzog. Ich wollte dabei nicht auch noch mithelfen. Kein bisschen.

„Ich habe euch ein verspätetes Mittagessen gekocht.", sagte Julians Mutter in Kims und meine Richtung, als endlich alle Taschen in dem kleinen, gefliesten Flur standen. Ach ja, die Sache mit dem Hunger. Die hatte sich erledigt. Mein Magen und mein Kopf waren gleichermaßen mit Wut und Angst gefüllt und mir war nicht danach, irgendwem in die Augen zu sehen und dabei ein Pseudo-Familienessen mit der explosiven und mittelfingerzeigenden Kim, dem ahnungslosen Felix, Julians Mutter und Julian selbst auszuhalten. Mit jedem Augenblick, den Julian diesen gequälten Gesichtsausdruck spazieren trug, baute er eine ziemlich dicke Mauer zwischen uns auf. Wenn doch jetzt alles so furchtbar ist, warum muss es dann so sein? Warum schleppst du mich mit hierher?

„Soll ich dir erstmal alles zeigen?", fragte er mich und ich ahnte, dass mir die Abneigung gegen das Mittagessen auf die Stirn geschrieben stand. Stumm nickte ich und folgte ihm aus dem dunklen Flur direkt eine knarrende Holztreppe nach oben. Tatsächlich brauchte ich keine zehn Minuten, um meine Meinung zu dem Haus zu verfestigen. Der Flur im ersten Geschoss war so dunkel, dass man selbst am Tag fast Licht anmachen musste. Die Zimmertüren waren aus dunkelbraunem Holz, die Decke war mit dunkelbraunem Holz verkleidet. Der Boden war beige. Dunkelbeige. Und trotz der frühlingshaften Temperaturen und dem blauen Himmel war es kalt. Ich hörte abwesend dabei zu, wie er erklärte, wer wo schlafen würde und wo das Bad war. „Du kriegst mein altes Zimmer.", sagte er und ich war mir nicht sicher, ob er es wie eine Entschuldigung oder wie ein Privileg klingen lassen wollte.

„Willst du nicht darin schlafen?", fragte ich tonlos.

„Eher nicht.", erwiderte er leise, stieß mit einem kurzen Zögern die Tür zu einem Zimmer in der Mitte des schmalen Flurs auf und machte eine einladende Handbewegung. „Deins."

Die Szene rief die Erinnerung an meinen Einzug bei den Feldmanns wach, als er mir versprochen hatte, mein Zimmer würde mein Reich werden. Besonders lange hatte es nicht gehalten. Ich ging an ihm vorbei, ließ meine Tasche mitten im Raum auf den Boden fallen und striff meinen Rucksack gleich mit ab. Der Raum war schrecklich. Das Fenster war im wahrsten Sinne des Wortes der einzige Lichtblick. Davor der Schreibtisch, ein schmales Bett in der Ecke. Ein massiver, dunkler Schrank zog sich über die ganze gegenüberliegende Seite des kleinen Zimmers. Es war eine Gefängniszelle. Es gab nicht ein Bild in dem Zimmer. Nicht einen Farbtupfer. Wow- selten so etwas Tristes gesehen. Ich drehte mich um und wusste, dass mir die Abneigung anzusehen war. „Danke." Der Sarkasmus in meiner Stimme war nicht zu überhören und ich hasste mich selbst dafür.

„Lukas..." Julian schloss für einen Moment die Augen und schüttelte langsam den Kopf. „Lass uns nach dem Essen sprechen, okay?"

„Ich habe keinen Hunger." Das war nicht gelogen, aber in erster Linie sprach der Impuls aus mir, ihm zu zeigen, was ich von ihm und dieser Situation hielt. Vielleicht hätte meine Therapeutin mich dafür bockig genannt.

Julian stand immer noch in der Tür, als wartete er darauf, dass ich ihm nach unten folgte. Ganz sicher nicht. Ich hatte kein Glück- egal, was ich anstellte und mit dieser Erkenntnis war meine Kooperationsbereitschaft in den Keller gerauscht. Er hatte mich hierhin geschleppt, um mich in der erdrückenden Schwermütigkeit der Holzbalken darauf warten zu lassen, dass die Trennung mich endgültig ins Heim brachte. In die Wohngruppe, korrigierte ich mich selbst und ätzte mit dem bloßen Tonfall meiner Gedanken Löcher in meine Haut.

„Okay.", sagte er schließlich und seufzte. „Wenn du nicht essen willst, dann..."

„Will ich nicht."

„...dann komme ich danach hoch. Ja?" Er warf mir einen eindringlichen Blick zu und ich starrte zurück. Ich hatte den Schlüssel, der von innen im Schloss der Zimmertür steckte längst entdeckt.

„Ja." Sicher nicht.

Er hatte sich noch nicht umgedreht, als ich die Tür hinter ihm zugeworfen hatte, mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen warf und den klemmenden Schlüssel mit Gewalt umdrehte. Mir war egal, ob er bei dem Versuch abbrach. Ich wollte nur sicherstellen, dass niemand seinen Fuß in diesen Raum setzte. Ich wollte nur sicherstellen, dass ich wenigstens über die Kammer des Schreckens die Kontrolle behielt.

„Lukas!", rief Julian, gefolgt von einem Fluch und einem lauten Klopfen an der Tür. „Mache die Tür auf." Er rüttelte einmal, zweimal erfolglos an der Klinke, während ich ungläubig auf den Schlüssel in meiner Hand starrte. 


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Ausnahmsweise mal einen Snack zur späten Wochenmitte.


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