Lukas
Ich hatte gedacht, dass ich darin geübt war, mir Sorgen zu machen. Um Inga, zum Beispiel. Wegen meiner zäh vorangehenden Promotion, zum Beispiel. Und trotzdem hätte mich nichts darauf vorbereiten können, was nach diesem Anruf in mir passierte. Ink war im Krankenhaus, das hatte Mark mir am Telefon mitgeteilt. Weil sie darauf bestand, hatte er kühl hinterhergesetzt und damit gleich klargestellt, dass er nicht aus freien Stücken mit mir sprach. Er hatte mir knapp mitgeteilt, dass ihr schon den ganzen Tag lang schwindelig gewesen sei. Mittags sei sie mit Herzrasen und Kopfschmerzen in der Küche umgekippt. Als ich fragte, in welchem Krankenhaus sie sei, machte er eine kurze Pause, ehe er leise und klar sagte, dass mich das nichts anginge. Er würde mich anrufen, weil Ink das so wollte, weil Ink fand, dass ich ein Recht darauf hatte, alles zu erfahren, was das Kind anging, aber das hieße noch lange nicht, dass er mich ertragen müsste. Wenn es etwas Neues gäbe, würde er es mich wissen lassen.
Pia hatte in dem Moment neben mir gestanden und mich mit einem Blick angesehen, den ich nicht hatte deuten können. Sie hatte ihre Hand auf meinen Arm gelegt und ich hatte sie weggeschoben, während ich versucht hatte, mit Mark zu diskutieren. Es hatte keinen Sinn gehabt.
„Du schläfst mit meiner Freundin, bringst uns alle damit in diese Situation und meinst jetzt, dass ich dir irgendetwas schulde? Ich rufe dich an, Lukas! Ich rede mit dir, weil Inga es will. Aber ich halte dich nicht aus! Nicht jetzt!" Mit den Worten hatte Mark aufgelegt und mich fassungslos zurückgelassen. Es ging um Ink und...und. Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende denken können. Das Kind. Das Mädchen. Karatekid. Meine Tochter.
„Lukas.", hörte ich Pia sagen, während ich meine Regenjacke von der Garderobe im Flur nahm. Ich spürte, dass sie mich am Oberarm berührte, aber es drang so wenig zu mir durch, wie ihr Versuch, mit mir zu reden und mich aufzuhalten. „Hey, warte!" Sie stellte sich in die Wohnungstür und versperrte mir den Weg nach draußen. „Warte.", wiederholte sie eindringlicher.
„Ich muss da hin, Pia."
„Du weißt doch nicht einmal, wo du hin musst, Lukas."
Sie hatte Recht, aber trotzdem konnte ich kaum stehenbleiben. Mein Herzschlag donnerte laut in meinen eigenen Ohren, meine Finger waren schweißnass und mir war übel. Wieder und wieder sah ich eine Erinnerung vor mir, der ich vor wenigen Tagen wenig Bedeutung beigemessen hatte und die mir jetzt den Brustkorb zuschnürte und das Atmen schwer machte. Ich hatte Angst- und Pia sah mich an, als befürchtete sie, ich könnte den Verstand verlieren.
„Ich muss da hin.", wiederholte ich, weil ich den anderen Gedanken, der sich mantraartig wiederholte, nicht aussprechen wollte.
„Du kannst doch nichts ändern jetzt. Du kannst nicht helfen. Es ist bestimmt alles gut, Lukas."
„Ja?", fuhr ich sie gereizt an. „Weil immer alles gut wird?"
Stumm trat Pia zur Seite. Sie sah mir dabei zu, wie ich meine Schuhe schnürte und sprach erst wieder, als ich mich wieder aufrichtete. „Ich bin weg, wenn du wiederkommst. Ich gehe nach Hause. Lass mich wissen, ob mit Inga alles in Ordnung ist." Es klang kühl und sie wischte sich eilig über die Augen, als ich sie ansah.
„Okay.", murmelte ich. Als ich ihr auf dem Weg nach draußen einen flüchtigen Kuss geben wollte, drehte sie sich weg. „Ich rufe dich an.", sagte ich noch, bevor ich an ihr vorbei nach draußen eilte.
Meine Jeans war nass und auch meine Regenjacke hatte bei dem Platzregen, der auf dem Weg von der S-Bahn-Haltestelle zum Krankenhaus eingesetzt hatte, nachgegeben. Meine nassen Turnschuhe quietschten auf dem Boden und ich wischte mir halbherzig mit der Hand die Regentropfen von der Stirn. Selbst hier drinnen, in den Fluren, hörte man den prasselnden Regen und das Grollen eines aufziehenden Gewitters. Noch einmal zog ich mein Handy aus der Tasche und las Ingas Nachricht. Neben einem deutlichen „Beruhige dich!" hatte sie das Krankenhaus und die Zimmernummer geschickt als Reaktion auf drei verpasste Anrufe. Ich war fast verrückt geworden, als sie wieder und wieder nicht abgehoben hatte und auch jetzt noch schlug mir das Herz bis zum Hals. Ich nahm den Aufzug vom Foyer in den dritten Stock und während ich darauf wartete, dass sich die Türen vor mir wieder öffneten, versuchte ich meine zitternden Hände wieder in den Griff zu kriegen. Als sich die Aufzugtüren mit einem erlösenden, hellen „Pling" öffneten und ich auf den Flur trat, war Marks Gesicht das erste, was ich sah. Er stand mir mit verschränkten Armen gegenüber und ließ seinen Blick langsam von meinen nassen Haaren zu meinen durchweichten Turnschuhen wandern. Alles in mir sperrte sich dagegen ihn zu begrüßen. Ihm schien es ähnlich zu gehen und nach kurzem Zögern wollte ich einfach an ihm vorbeigehen.
„Du bist nur hier, weil Inga dachte, dass du sonst austickst.", sagte Mark, als ich schon fast an ihm vorbei war und packte mich grob an der Schulter.
„Lass mich los.", erwiderte ich und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, aber er seine Finger krallten sich nur noch fester in meine Schulter.
„Halte dich doch einfach aus meinem Leben raus.", zischte er. „Hau doch einfach ab."
„Mark, das ist vielleicht mein Kind." Karatekid. Inga und ich die einander versprochen hatten, das hinzubekommen. Für sie. Für Karatekid. Ich hatte ihren Bauch nicht berühren wollen, weil ich mich vor genau dem Gefühl gefürchtet hatte, da sich jetzt so oder so eingestellt hatte: dass das Kind meine Tochter sein könnte. Das war die Erinnerung, die seit Marks Anruf in Dauerschleife in meinem Kopf ablief. Die Angst, dass mit ihr, mit einer der beiden etwas nicht stimmen könnte, hatte sich in den letzten beiden Stunden tief in meine Gedanken gefressen und ließ meine bebenden Finger einfach nicht mehr zur Ruhe kommen.
„Und vielleicht ist es meins.", unterbrach Mark meine Gedanken fast flehentlich und fixierte mich mit einem eindringlichen Blick.
„Ich will das jetzt nicht diskutieren.", sagte ich mit Nachdruck, schüttelte seine Hand doch noch ab und ging einfach weiter in Richtung der Zimmernummer, die Inga mir geschickt hatte. Ich wollte gerade einer Krankenpflegerin zunicken, die einen mitleidigen Blick auf meine tropfende Jacke warf, als ich mit so viel Kraft geschubst wurde, dass ich den Boden unter den Füßen verlor und gegen die Wand stolperte. Noch während ich mich wieder aufrappelte, schmeckte ich den metallischen Geschmack von Blut in meinem Mund und spürte den dumpfen Schmerz neben meinem linken Auge. Ich wusste auch ohne mich umzudrehen, dass Mark hinter mir stand. Als ich mich trotzdem zu ihm umwandte, hob Mark die Hände und ich sah, wie er etwas sagen wollte. Ich hörte es nicht. Ich spürte nur, wie sich meine rechte Faust fest zusammenkrampfte.
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Verspätetes frohes Neues!
Was meint ihr? Hat Lukas seine rechte Hand noch im Griff oder eher nicht?
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Lieblingstag
Ficțiune adolescențiInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...