Lukas
Es war angenehm warm, als ich das Unigebäude verließ. Die Sonne schien freundlich, aber nicht zu aufdringlich auf meine nackten Arme und ich nahm mir einen Moment, um einfach durchzuatmen und zu realisieren, was gerade passiert war. Am Morgen, als ich meine Mails aufgerufen hatte, war ich schon sicher davon ausgegangen, die E-Mail mit meiner Note im Posteingang zu finden. Und so war es auch gekommen. Die Mail war schon Tage vorher geschickt worden, aber ich hatte meinen Laptop bei Julian und Sina ausgelassen. Ich hatte das, in all dem Chaos, bewusst hinausgezögert, weil ich genau gewusst hatte, dass diese Note noch ausgestanden hatte und das daran ein Nachgespräch geknüpft sein würde, in dem zwangsläufig die Frage aufkommen musste, wie ich meine Zukunft sah. Und eben dieses Gespräch hatte ich gerade hinter mich gebracht.
Tatsächlich hatte mein Prof bei der spontanen Nachbesprechung wenig Zeit darauf verschwendet, meine Arbeit zu kommentieren. Eigentlich hatte er so gut wie gar nichts dazu gesagt. Er hatte mir kurz zum erfreulichen Ergebnis gratuliert und war dann direkt darauf zu sprechen gekommen, was sich für inhaltliche Folgefragen ergeben hätten, an denen ich weiterarbeiten könnte- wenn ich denn nun endlich zusagte, am Institut zu bleiben. Er hatte das mit einem Schmunzeln gesagt, aber ich wusste, dass er endlich eine finale Entscheidung von mir brauchte.
„In ein paar Tagen schreibe ich die Stelle öffentlich aus, Lukas.", hatte er gesagt, als ich daraufhin noch einmal erwidert hatte, nachdenken zu müssen. „Wenn ich dann deine Bewerbung bekomme, ist das eine sichere Nummer. Ansonsten nehme ich jemand anderen- wenn auch ungern."
„Ich schreibe die Bewerbung." Das waren meine Worte gewesen, bevor ich das Büro verlassen hatte. Alles andere wäre auch bescheuert gewesen. Die Stelle war mir quasi auf den Leib geschneidert, daran gab es nichts zu rütteln. Ich würde das Projekt, an dem ich in den letzten Jahren schon mitgearbeitet hatte, weiterführen können. Außerdem mochte ich meine Kollegen, die Stimmung im Team war grundsätzlich angenehm und die Kaffeemaschine absolut fantastisch. Wenn ich diese Bewerbung losschickte, würde ich in ein paar Wochen einfach jeden Morgen zu meinem bereits eingerichteten Arbeitsplatz und Mittags mit meinen Kollegen in die Mensa gehen. Es würde sich wenig ändern- und gemessen daran, dass ich in der Gruppe immer gern gearbeitet hatte, war das mit Sicherheit nichts, was dagegen sprach, die Stelle anzunehmen. Ich sollte das machen. Ich sollte diese Bewerbung schreiben, anfangen zu arbeiten und Daniel dabei helfen, morgens den Weg in den Hörsaal zu finden. Sonst würde Lena niemals dazu kommen, „ja" zu sagen. Ich sollte meine Wohnung neu streichen und endlich ein neues Sofa reinstellen und mich wieder beim Hochschulsport anmelden. Ich sollte mein Leben wieder in die Hand nehmen- weniger verbissen, als direkt nach der Trennung, aber ich sollte es wieder in geregelte Bahnen lenken. Und ich sollte diese 1,0 feiern, wie ich all die Noten gefeiert hatte, die es verdient hatten.
Ich tat einen tiefen Atemzug, drehte mich zu dem grauen Betonklotz in meinem Rücken um und machte mir klar, dass ihn und mich die nächsten drei Jahre wohl nichts trennen würde und machte mich dann auf den Weg zu meiner kleinen Stammbäckerei. Franzbrötchen, Kaffee und der Plausch mit dem alten Ehepaar hinter der Theke gingen einfach immer.
Während ich hinter zwei Jura-Studenten wartete, deren Studienfach nicht deutlicher hätte erkennbar sein können, wenn sie sich das BGB vor die Stirn genagelt hätten, winkte mir der kahlköpfige Mann mit seiner blauen Schürze schon zu.
„Das übliche?", fragte er mit einem breiten Lächeln.
„Das Feiertagspacket.", widersprach ich und schmunzelte, weil ich realisierte, dass ich wirklich zu oft in meinen Lernpausen und nach meinen Klausuren hier gewesen und mit den Betreibern geplauscht hatte.
„Kaffee mit Milch, ein Franzbrötchen und ein gedeckter Apfelkuchen?"
„Kaffee und Franzbrötchen reicht, danke."
„So lange wie du nicht mehr hier warst, habe ich schon gedacht, du wärst fertig."
Ich hob die Schultern und konnte nicht anders, als mir verlegen durch die Haare zu streichen. „Bin ich jetzt auch."
„Nein, wirklich?" Der Mann lächelte breit und steckte als Reaktion einen zusätzlichen Schokomuffin in meine Tüte. „Ist's gut geworden?"
„Sonst gäbe es kein Feiertagspacket, oder?", gab ich mit einem Zwinkern zurück.
Ich bedankte mich für die Glückwünsche, bezahlte noch vor den beiden Jura-Studenten, was ihnen sichtlich sauer aufstieß, verabschiedete mich und suchte mir danach auf dem Campus eine ruhige Bank im Schatten, wo ich mich mit Kaffee und Franzbrötchen niederließ und das Treiben vor der Hauptbibliothek beobachtete. Die Studis sahen alle eher entspannt aus- der Prüfungszeitraum war längst vorbei. Vermutlich schrieben einige noch an ihren Hausarbeiten, aber auch die zahlreichen leeren Fahrradständer vorm Eingang verrieten, dass die Bibliothek dieser Tage nicht gerade einen Ansturm erlebte. Ich erinnerte mich sehr lebhaft daran, wie Ink und ich während des Bachelors noch versucht hatten, auch in den Prüfungsphasen in der Bib zu arbeiten und wie wir dafür morgens noch vor acht vor dem Eingang in einer Menschentraube gestanden hatten, um überhaupt einen Platz ergattern zu können. Diesen Stress hatten wir uns im Master nicht mehr angetan und lieber direkt von zuhause aus gelernt. Überhaupt war ich ohne Ink nur selten in der Bib gewesen. Genauso, wie ich nur selten ohne Ink mit Franzbrötchen und Kaffee auf dieser Bank zufrieden und erleichtert eine gute Note gefeiert hatte. Deshalb hatte mich der Mann in der Bäckerei auch nach dem Apfelkuchen gefragt, der eigentlich ein fester Bestandteil des Feiertagspackets war. Ich spürte, wie die Erinnerung meiner Stimmung einen Dämpfer verpasste und wie mich gleichzeitig die Wehmut packte. Gott, wie ich diese Studentenzeit, die jetzt einfach vorbei sein sollte, geliebt hatte. Zumindest die ersten Jahre waren dieses große, verrückte Abenteuer geworden, dass Ink und ich uns ausgemalt hatten und das wir so unbedingt gemeinsam hatten erleben wollen. Und die Erinnerung daran war überall. Auf dieser Bank vor der Bibliothek, in der Bäckerei, in unserer Wohnung und im Institut. Sie würde mich sogar in Daniels Wohnung einholen oder am Kanal oder auf dem Wochenmarkt, wo Ink und ich sooft unsere bunte Käsetüte für die Woche abgeholt hatten. Ich steckte mein angebissenes Franzbrötchen zurück in die Tüte und trank stattdessen einen Schluck Kaffee, weil mir der Appetit vergangen war. Diese Zeit war einfach unbezahlbar für mich gewesen. Ich war endlich, nach so langer Zeit, nicht mehr der Junge mit den toten Eltern gewesen, sondern einfach nur ich. Ich hatte ich werden dürfen während dieser verdammt guten Zeit. Und Ink war so ein riesiger Teil davon, dass für mich an jeder Straßenecke eine Erinnerung an uns beide mit Sekundenkleber festgeklebt war. Sie war weg und gleichzeitig überall und mir sickerte langsam ins Bewusstsein, dass ich am Ende meiner Promotion, wenn meine Freunde ihr Studium längst fertig hätten und längst weggezogen wären, mit dieser Erinnerung alleine hier zurückbleiben würde. Ich würde mit einem ewigen Geist leben, in die Bib und in die Mensa gehen. Und das, genau das, war auch der Grund, weswegen ich mich bisher innerlich so dagegen gesperrt hatte, dieses Stellenangebot einfach anzunehmen. Die anderen würden gehen. Ich würde alleine stehenbleiben. Fuck. Ich wollte diese Erkenntnis nicht haben. Ich wollte diese Stelle annehmen. Alleine schon, weil ich Neuanfänge noch immer hasste. Alleine schon, weil ich Umzüge hasste und nach wie vor zu oft in meinem Leben der Neue gewesen war. Und gleichzeitig- und dieses Bedürfnis war mit einem Mal stärker in mir als alles andere- wollte ich nicht mit einem Geist zurückgelassen werden. Niemals.
Ruckartig stand ich auf, warf meinen leeren Kaffeebecher in den Mülleimer neben mir, lief ohne zu Zögern nach Hause, warf dort meinen Laptop wieder an und schrieb eine Bewerbung, die nicht an meinen Prof adressiert war.
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Was er da wohl für eine Bewerbung schreibt? ;)
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Lieblingstag
Roman pour AdolescentsInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...