Kapitel 27: Wunder (2)

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Pia


Ich hätte nach der Reitstunde keine Ahnung gehabt, ob Herr Baaten mich am liebsten vom Pferd gezogen hätte oder ob er positiv überrascht war. Das erfuhr ich erst, als er sich nach der Reitstunde zu Helena stellte, die am Rand gestanden und zugeschaut hatte. Er winkte mich zu sich und erklärte, ohne dabei eine Miene zu verziehen oder gar zu lächeln, dass das mit Calvin und mir wohl funktionieren würde. Wenn ich regelmäßig bei ihm Unterricht reiten wollte, dann könnten wir vielleicht in Zukunft auch mal an Lektionen gehen, die Calvin im Moment noch schwerfielen. „Stichwort aktive Hinterhand, Stichwort Seitengänge", sagte er schroff in Richtung Helena, die schuldbewusst die Schultern hochzog.

„Klingt doch nach einem Plan, oder Pia?"

Ich nickte und rang mich zu der Frage durch, wie oft ich denn Unterricht reiten solle. So, wie Helena und ich uns erst wegen Calvin besprochen hatten, war ich nicht davon ausgegangen, überhaupt Unterricht zu nehmen. Ich hatte eher das Gefühl gehabt, sie ab und an bei Abwesenheit vertreten zu sollen. Bei dem Gedanken an eine feste Reitbeteiligung mit regelmäßigem Unterricht schlugen definitiv zwei Herzen in meiner Brust. Das eine, das es nicht erwarten konnte, wieder einen Reitlehrer zu haben. Und das zweite, dass bei dem Gedanken, Spritgeld, Unterricht und vielleicht dann doch eine Kostenbeteiligung an Helena zu zahlen, ziemlich unrund klopfte.

Herr Baaten warf Helena einen kurzen Blick, ehe er antwortete. „Einmal in der Woche. Da habt ihr dann alle drei was von. Helena, das Pferd und du. Dann kommt man auch mal vorwärts."

Helena stimmte zu und ich erwischte mich dabei, wie ich ebenfalls nickte- und gleichzeitig überlegte, an welchem Wochentag ich eine Extraschicht im Café würde einbauen können. Als Herr Baaten ging und Helena und ich Calvin zusammen versorgten, fragte ich Helena vorsichtig, ob sie denn überhaupt wolle, dass ich regelmäßig zum Stall kam und ritt.

Sie grinste nur schief. „Was soll ich denn dagegen haben, gerade nach heute?" Auch, als ich sie auf die Kostenbeteiligung ansprach, schüttelte sie energisch den Kopf. „Lass mal. Das Spritgeld und der Unterricht sind teuer genug."

„Das Pferd wird aber davon ja nicht günstiger für dich.", warf ich ein. „Ich weiß doch, was das kostet."

„Mag sein, Pia, aber ich habe Calvin in letzter Zeit selten so locker laufen gesehen wie heute. Der wird nicht besser davon, dass ich zu wenig Zeit für ihn habe und so ungern Dressur reite, dass ich nur einen Springsattel habe. Der hatte die Beine schon zweimal kaputt und vielleicht ist es Zeit, ihn anders zu arbeiten. Ich will jedenfalls kein Geld von dir, wenn du mein Pferd im Unterricht reitest."



Als ich mich abends nach einer langen Dusche mit einer großen Schale Müsli in mein Zimmer verkroch und es mir auf meinem Bett gemütlich machte, nahm ich das Handy zur Hand und las die Nachricht von Lukas. Er erzählte, dass er wirklich Inga im Krankenhaus besucht hatte – und dem klaren Ton der Nachricht nach zu urteilen, sah er absolut keinen Grund, sich dafür vor mir zu rechtfertigen. Er entschuldigte sich dafür, sich erst so spät gemeldet zu haben und als ich las, was ihm „dazwischen gekommen" war, verschluckte ich mich beinahe an meinen Haferflocken. „Nicht dein Ernst.", flüsterte ich ungläubig meinem Handybildschirm zu, als zu mir durchdrang, dass Mark Lukas im Krankenhausflur eine verpasst hatte. Ungläubig ließ ich mein Handy sinken. Das war krass. Einen solchen Vorfall hatte ich nicht kommen sehen. Kein bisschen. Die Situation schien noch viel verfahrener, noch viel explosiver zu sein, als ich angenommen hatte. Dabei hatte ich ihr auch schon vorher nichts positives abgewinnen können. Ich stellte meine halbleere Müslischale auf dem Boden ab und starrte ins Leere. Das Wort „kompliziert" wurde der Situation längst nicht mehr gerecht. Mir fielen sehr viel drastischere Begriffe ein, als ich an die letzten Wochen mit Lukas dachte. Es war eine heftige Achterbahnfahrt gewesen. Mit sehr tiefen Tiefs und sehr, sehr fantastischen Höhen. Ich wollte diese guten Momente so sehr. Ich dachte an die Einladung zur Hochzeit und daran, dass ich ihn noch vor weniger als 48 Stunden darum gebeten hatte, mit mir nach Hamburg zu fahren. Noch hatte er meine Oma nicht kennengelernt. Als ich ihm antwortete, wusste ich nicht, ob ich das richtige tat. Ich war mir nur sicher, dass ich nicht noch ein weiteres ungezähltes Mal mit Vollgas gegen eine Wand brettern wollte.



Die nächsten Wochen waren so voll, dass ich wenig Zeit hatte, unseren Entschluss zu hinterfragen. Ich lernte für die Prüfungen, organisierte meine Famulatur für die Semesterferien und arbeitete. Für die wöchentliche Reitstunde schob ich wie geplant Extra-Stunden im Café und wenn das Pensum dann doch mal noch nicht ausreichte, um mich abends fast bewusstlos ins Bett plumpsen zu lassen, dann verbrachte ich Zeit mit Jasja. Zweimal nahm ich sie zum Klettern mit, mied aber den Freitagabend als Termin. Ich wollte Lukas nicht begegnen. Dabei schrieben wir, hin und wieder zumindest. Ich hatte an jenem Sonntagabend nicht laut und unmissverständlich nach endgültiger Trennung geschrien, auch dann nicht, als wir am nächsten Abend länger miteinander telefoniert hatten. Ich wollte dieses Chaos nicht, Lukas wollte dieses Chaos auch nicht. Wir hatten uns darauf geeinigt, nochmal zu sprechen, wenn er wusste, von wem das Kind war und was das für ihn bedeutete. Die Entscheidung hatte wehgetan, aber ich war das ewige Auf- und Ab so leid gewesen, dass ich darüber keine Tränen vergossen hatte. Ich hatte versucht, auf mich aufzupassen. Endlich mal. Gerne hätte ich gesagt, dass ich halt dazugelernt hatte, der Auslöser war aber Paul gewesen- und das Kim ernsthaft darüber nachdachte, ihn nicht zu verlassen. Mir ging das auf eine extrem unangenehme Art unter die Haut, weil ich es nicht gekonnt hätte, weil ich es nicht verstand, weil ich einfach dagegen war- und weil ich mich in ihr wiedererkannte. Wie oft hatte sie mir vor meinem Umzug nach Berlin gesagt, dass sie nicht verstand, wieso ich keinen endgültigen Schlussstrich unter die Sache mit Viktor zog. Sie musste sich ungefähr so gefühlt haben wie ich mich jetzt fühlte- minus die persönliche Enttäuschung wegen Paul.

Ich wollte nicht nochmal sehenden Auges in eine schmerzhafte Katastrophe rennen, und die hatte ich kommen sehen, seit Lukas mich ohne zu zögern in seiner Küche hatte stehen lassen, um zu Inga ins Krankenhaus zu fahren. Er hatte mir geschworen, das sei wegen des Kindes gewesen. Ich war mir nicht sicher, ob er nicht genauso unbedingt zu Inga gewollt hatte. Und eine leise Stimme in meinem Hinterkopf fragte mich, ob ich ihm das Übelnehmen durfte. Spätestens ab dem Punkt war es für mich zu kompliziert und zu chaotisch geworden. Ich wollte gerade kein Verständnis dafür haben, dass Inga vielleicht nicht die gewöhnliche Ex für ihn war, die man abhakte. Also lagen meine Gefühle für Lukas auf Eis und ich hatte keine Vorstellung davon, wie und ob sie den Konservierungsprozess überstehen würden. 



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Hat da eine wirklich genug von Katastrophen? Und wie findet ihr das? Und was sagt Lukas wohl dazu? ;)

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