Kapitel 17: Gezeitenwende (7)

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Lukas


Der Weihnachtsabend lief so ruhig und harmonisch ab, wie ich es lange nicht erlebt hatte. Julian verkniff sich jede Nachfragerei wegen meines Besuchs bei Inga und da weder Kim noch Felix noch Sina mich mit Nachfragen überhäuften, ging ich ehrlich überrascht davon aus, er habe meinen Abstecher, den ich gerade mit mir zu vereinbaren versuchte, ernsthaft für sich behalten. Auch beim traditionellen und für alle absolut verpflichtenden Familienausritt, den wir im anhaltenden Regen hinter uns bringen mussten, blieb das Thema unerwähnt. Sina ritt mit Regenmantel und tief ins Gesicht gezogener Reitkappe vorweg und wann immer sie sich umdrehte, sah sie dem Wetter angemessen griesgrämig aus. Kim teilte ihre Begeisterung ohne viele Worte und Felix hatte mit Niro, dem Regen und Wind offensichtlich Schauermärchen zuflüsterten, beide Hände voll zu tun. Julian saß auf seiner Stute Fanjana, die ihre Abneigung vorm Regen im Wald genauso garstig zeigte wie im Viereck und stoisch seitwärts lief. Er hielt sie nicht minder storisch aus- so, wie er es schon in den letzten Jahren im Viereck getan hatte. Was mal als hoffnungsvolle Pferd-Reiter Kombination angefangen hatte, war längst eine Zweckgemeinschaft, die niemandem mehr nützte und ich wusste, dass Julian sich schon seit mindestens zwei Jahren immer wieder mit dem Gedanken trug, die Stute einfach wegzustellen- bevorzugt außer Sichtweite. Nikita schlug sich dagegen fabelhaft und im Stillen gab ich Sina recht: sie schien in den letzten Monaten eine Menge gesehen zu haben, so artig wie sie das Wetter und die knirschende Ausreitdecke ertrug. Vielleicht lächelte ich zu zufrieden über diesen Fortschritt, als wir die Pferde absattelten. Jedenfalls hatte ich die Gamaschen noch nicht ab, als Sina mich fragte, was Nikita mir denn noch beweisen müsste, bevor ich sie endlich mitnähme. Als ich auch während der anschließenden Vorbereitung des Mittagessen darauf beharrte, sie nicht haben zu wollen, lenkte schließlich Julian ein.

„Lass gut sein, Sina. Wenn er sie nicht mitnehmen will, will er sie nicht mitnehmen."

Sie warf mir einen verständnislosen Blick zu, bevor sie geschlagen mit den Schultern zuckte. „Gut, fein. Nimm sie nicht mit. Aber dann reitet Paul sie weiter und du kommst ihm und mir nicht mehr in die Quere mit deinen Vorstellungen davon, wie sie gearbeitet werden sollte."

„Als ob...", versuchte ich zu protestieren, kam aber keine drei Wörter weit.

„Du hast ihm verboten, sie beim Bundeschampionat zu reiten, weil ihre Nerven dafür zu zart seien. Dabei sind die einzigen Nerven, die hier zu zart sind, deine eigenen.", schimpfte sie und meine Ohren schlackerten gewaltig bei den Worten. Sina hatte recht- und gerade deswegen hatte sie einen wirkungsvollen Leberhaken platziert. Ja, meine Nerven waren verglichen mit ihren vermutlich wirklich zu zart, um ein wirklich guckiges und nerviges Pferd nach Warendorf zu karren und einfach mal zu gucken, wie sie sich schlagen würde.

„Sina..." Julian schüttelte mahnend den Kopf. „Brrr."

„Ich halte mich raus.", versprach ich mit abwehrend erhobenen Händen, bevor der Konflikt eskalieren konnte. Und das meinte ich so, nicht zuletzt, weil Paul sich sonst vermutlich gar nicht mehr darauf einlassen würde, Nikita zu reiten. Ich hatte tausend Gelegenheiten gehabt, sie mitzunehmen und es nie getan. Es war unfair zu erwarten, dass Sina und Julian sie weiter durchfütterten und reiten ließen, während ich – wahrscheinlich vollkommen unnötig- auf der Bremse stand. „Nicht mehr mein Pferd. Paul kann machen, was er für richtig hält. Ich schwöre es feierlich."

Sina brummte unwillig und die tiefe, fast persönliche Enttäuschung war ihr noch bis zum Nachtisch anzusehen. Überhaupt war sie seit dem Weihnachtsessen bei ihren Eltern in einer fast durchgängig gefährlichen Stimmungslage. Unterm Weihnachtsbaum hatte sie sich zusammengerissen, aber das Drama um ihre Mutter- in Kombination mit einer Kim, die an diesem ersten Weihnachtstag das Ende ihrer Turnierkarriere auf den Tisch packte- zehrte offensichtlich an der ohnehin dünnen Nervendecke, auch, wenn der große Knall ausblieb. Umso überraschter war ich, als ich abends längst im Bett lag und schon fast eingeschlafen war und meine Zimmertür leise einen spaltbreit aufgeschoben wurde. Ich hob verschlafen den Kopf und erkannte Sinas Silhouette.

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