Berlin Hauptbahnhof
Als ich auf dem gepflasterten Bahnhofsvorplatz stand, der die Hitze des Tages abstrahlte, ging ein kaum merklicher Wind. Der wolkenfreie Abendhimmel versprach eine Nacht ohne Regen und Abkühlung und nach den Stunden im klimatisierten ICE war mir fast unerträglich warm. Ich warf einen Blick zurück auf das Bahnhofsgebäude in meinem Rücken und dann einen auf meine Armbanduhr. Wenn ich irgendeine Chance haben wollte, Inga heute noch zu sehen, dann musste ich sie jetzt anrufen. Und ich sollte mir dringend überlegen, wo ich schlafen wollte. So oder so. Ohne länger zu zögern, zog ich mein Handy aus der Hosentasche, suchte nach Ingas Kontakt und ließ meinen Finger einen Moment über ihrer Nummer schweben, bevor ich wählte. Feigling. Ich hatte mein Handy kaum an mein Ohr gehoben, als sie abhob.
„Lukas?" Die Ungläubigkeit in ihrer Stimme war immerhin besser als direkte Ablehnung.
„Hi, Inga." Neben mir zogen ein paar Reisende lärmend eine ganze Herde an Rollkoffern hinter sich her.
„Ist alles in Ordnung bei dir?"
„Wieso sollte irgendwas nicht in Ordnung sein? Ich..." Ich machte ein paar Schritte weg von der Rollkoffergruppe, die sich zusammengestellt hatte und lautstark über einem Stadtplan anfing, ihren Weg zu planen. Im Stillen empfahl ich ihnen, dem Online-Kartendienst ihres Handys zu vertrauen. „Ich bin in Berlin.", sagte ich dann ohne Umschweife.
„Du? In Berlin?" Ohne sie zu sehen wusste ich, dass ihre Augenbrauen gerade beeindruckend symmetrisch einen Zentimeter nach oben gewandert waren.
„Ja...", erwiderte ich gedehnt und sah zwei Tauben dabei zu, wie sie sich um ein Stück Brot stritten.
„Was machst du hier?", fragte sie und ich brauchte keine weiteren Worte von ihr, um herauszuhören, was sie davon hielt: wenig bis nichts.
Das wüsste ich auch gerne wäre die ehrliche Antwort gewesen. „Dir dein Skizzenbuch bringen.", sagte ich stattdessen und hörte, wie die Stimmung auf der anderen Seite schlagartig noch mehr Schlagseite bekam.
„Du bringst mir eins von meinen alten Skizzenbüchern? Das hättest du einfach wegwerfen können. Ich habe es im letzten Jahr nicht vermisst. Sonst hätte ich was gesagt."
„Ich habe hier zu tun.", log ich, um mich vor dem vorwurfsvollen, angeätzten Ton in Sicherheit zu bringen. Die unterlegene Taube folgte gerade demselben Impuls, ließ das Brotstück Brot sein und floh vor ihrem Widersacher.
„Zu tun?", echote sie misstrauisch.
„Ich habe meine Masterarbeit abgegeben. Jetzt kümmere mich um meine berufliche Zukunft oder so.", log ich und widerstand dem Drang, meine Augen zuzukneifen. Ich war schon immer ein furchtbar mieser Lügner gewesen und Inga gut darin, meine bemitleidenswerten Versuche zu durchschauen.
„Du kümmerst dich um deine berufliche Zukunft in Berlin?" Sie betonte die letzten beiden Worte überdeutlich und spätestens ab da wusste ich, dass ich in dieser Stadt unerwünscht war. Unerwünscht wie die Neurodermitis an Ingas linkem Ellbogen, die im Sommer verschwand und sie im Winter Nerven kostete.
„Entspanne dich, Ink. Ich habe hier zu tun und dein Skizzenbuch im Rucksack. Wenn du möchtest, bringe ich es dir vorbei, wir trinken einen Kaffee und ich verschwinde wieder. Wenn nicht, dann nicht." Wobei ich mir nach ihrer überdeutlichen Skepsis überlegte, ob ich diesen Kaffee wirklich noch trinken wollte.
„Bist du morgen Abend noch hier?", fragte sie nach einer kurzen Pause, in der ich fast das Rattern ihrer Gedanken hätte hören können.
„Ja." Scheinbar schon.
„Um sieben?"
„Klar."
„Ich schicke dir die Adresse. Du kannst bei Fabeck und Koch klingeln."
Fabeck und Koch. Mich traf unerwartet hart, wie sie mir damit im Vorhinein noch einmal unmissverständlich bedeutete, dass sie nicht alleine wohnte. „Kriege ich hin.", erwiderte ich und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie der Gedanke an Fabeck und Koch ein ungutes Gefühl auf Höhe meines Zwerchfells auslöste.
„Bringe einen Vinho Verde mit, ja?"
Wäre ich klug gewesen, dann hätte ich mich nach dieser Frage wieder in den Zug gesetzt und wäre zurück nach Hause gefahren. Stattdessen sah ich ungläubig der Gewinnertaube dabei zu, wie sie das erbeutete Brotstück verspeiste. „Einen Vinho Verde?"
„Einen Vinho Verde.", bestätigte sie und klang zum ersten Mal in diesem Gespräch ruhig und sich ihrer Sache sicher.
„Wie du meinst, Ink." Die Erinnerung an eine besondere Flasche Weißwein, einen Urlaub in Porto und einen spektakulären Sonnenuntergang über dem Douro betäubte meinen Selbsterhaltungstrieb so wirksam, dass ich ihn nicht einmal zucken spürte. Dabei donnerte er mit allem, was möglich war, von innen gegen meine Brust und schrie mich an.
„Bis morgen, Lukas. Und verlaufe dich nicht. Berlin ist groß."
„Du weißt doch: eingebauter Kompass.", sagte ich und meine Mundwinkel zuckten. „Bis morgen, Inga."
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Was meint ihr? Sollte Lukas sich auf das Glas Vinho Verde mit Inga freuen?
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Lieblingstag
Novela JuvenilInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...