Berlin
Ich war längst dazu übergegangen, mich unruhig hin und her zu wälzen, kontinuierlich auf der Suche nach der einen magischen Schlafposition, die meine Augenlider schwer werden lassen würde. Mit jeder Stunde, die ich wach lag, wurde ich gleichzeitig wacher und erschöpfter und irgendwann stellte sich ein Gefühl ein, dass ich in der Intensität in den letzten zehn Jahren nicht mehr gespürt hatte. Ich wollte schlafen- und es ging nicht. Meine Gedanken rasten und sprangen sinnlos hin- und her, mein Puls zog an und ich spürte eine quälende Unruhe in meinen Beinen, die ich kaum noch stillhalten konnte. Das Skizzenbuch, das ganz unten in meinem Rucksack begraben war, übte eine magnetische Anziehungskraft aus, der ich versuchte, nicht nachzugeben. Ich hatte die Zeichnung, wegen der ich mich überhaupt in den Zug gesetzt hatte, detailliert vor Augen. Pu, mit seinem charakteristischen roten T-Shirt und Ferkel mit rosafarbener Nase vor unserem Institut, kaffeetrinkend. Das waren sie und ich. Sie hatte über die Jahre mehr als einmal- mal mehr und mal weniger scherzhaft- uns beide in die Figuren von Alan Alexander Milne verwandelt. Weil sie wusste, wie tief mich Kinderbücher – und gerade dieses- berührten. Sie waren nach all der Zeit immer noch oft genug der Schlüssel zu einem kleinen Teil von mir, der irgendwo zwischen den längst entsorgten Ruinen eines alten Bauernhauses, einem Friedhof und den verschiedenen Pflegefamilien verschüttet lag. Any day spent with you is my favourite day. Darunter das hingekritzelte Datum. Es war der Tag gewesen, an dem wir die Party organisiert hatten. Nur Tage, bevor sie mich verlassen hatte. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie mit dem Gedanken daran, mich zu verlassen, Pu und Ferkel gezeichnet hatte.
Als die Sonne aufging, gönnte ich mir eine Pause von meinem Versuch, mich zum Einschlafen zu zwingen. Ich war verschwitzt, was nicht der Tatsache geschuldet war, dass die Temperatur in dieser Sommernacht nicht vernünftig abgefallen war. Auch, als ich mein durchgeschwitztes T-Shirt über den Kopf zog, unter die Dusche stolperte und abwechselnd heiß und kalt duschte, ließ sich weder die Erschöpfung noch die Anspannung abwaschen. Die Erleichterung blieb aus. Stattdessen zogen sich die Muskeln zwischen meinen Schulterblättern unangenehm zusammen, während sich mir die Erinnerung an das letzte Jahr aufdrängte, etwa an die Woche, die ich nach der Trennung zuhause verbracht hatte. Ich war morgens früh aufgestanden und hatte mich im Stall nützlich gemacht. Ich hatte die Sattelkammer gestrichen, gemistet, Futter gemacht und war viel geritten. So viel Zeit wie ich in dieser einen Woche hatte ich vermutlich bis dahin im ganzen Jahr noch nicht auf dem Pferd verbracht, aber es hatte meinen Kopf ruhig und meine Muskeln müde gemacht. Ich hatte nicht viel gesprochen- und Julian und Sina hatten das hingenommen, obwohl ich wusste, dass die Trennung die beiden fast so sehr schockiert hatte wie mich. Inga hatte- wie auch sonst nach so langer Zeit- zur Familie gehört. Felix hatte sich kaum vorstellen können, dass Ink nicht mehr herkommen würde, weil er sich an eine Zeit ohne sie fast nicht erinnern konnte. Ich hatte derweil versucht, mir einfach gar nichts vorzustellen. Ich hatte mich beschäftigt, bis ich mir sicher gewesen war, dass der akute Schmerz erstickt war. Erst, als er einem latenten Dauerpochen gewichen war, war ich wieder in Ingas und meine Wohnung gefahren, aus der sie in der Zwischenzeit ihre Sachen abgeholt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wo sie unser Sofa untergebracht hatte, aber es war weg gewesen. Ihre Klamotten waren weggewesen. Ihre Schublade unterm Bett war leer gewesen und die Hälfte der Küche leergeräumt. Ich hatte noch ein scharfes Messer besessen- und war wie auf Autopilot mit Daniel zu Ikea gefahren, um die Dinge nachzukaufen, die mir plötzlich gefehlt hatten. Er hatte- ganz ohne dass ich ihm Bescheid gesagt hätte- schon von der Trennung gehört. Ink hatte es einer Freundin erzählt, die hatte es wiederum einer Freundin seiner Freundin erzählt und über die war es bei ihm angekommen. Er hatte das Thema erst bei einem Stück Erdbeerkuchen, den wir über seine Family Card gratis bekamen, angesprochen. Ob ich klarkäme. Ob ich von ihr gehört hätte. Ob ich reden wolle. Ja, nein und nein- und damit hatten wir das Thema abgehakt.
Ich hatte mich in meine Arbeit und mein Studium gestürzt und an jedem freien Abend der Woche einen Kurs beim Hochschulsport belegt. Ich war dreimal in der Woche klettern gewesen, hatte Volleyball gespielt und am Ende des Semesters endlich die Halbmarathondistanz laufen können. Der dumpfe Schmerz hatte darüber nachgelassen. Es war mir nicht schlecht gegangen. Ich hatte nachts gut geschlafen. Nicht zuletzt, weil ich auf einer denkwürdigen WG-Party Marie getroffen hatte. Denkwürdig, weil auch Inga dagewesen war. Denkwürdig, weil wir das erste Mal wieder miteinander gesprochen hatten.
„Alles gut bei dir?", hatte sie steif gefragt.
„Alles gut?"
„Wohnst du noch bei uns?"
„Ich wohne immer noch in der Wohnung, ja. Und du?"
„Ich ziehe mit meinem Freund nach Berlin."
„Wow- viel Glück."
„Danke."
Es war das befangenste, seltsamste Gespräch gewesen, das ich je geführt hatte. Ich hatte nicht gewollt, dass es andauerte und gleichzeitig gehofft, das wir uns ein Bier schnappen und uns für ein paar Minuten auf den Balkon setzen würden, um wirklich zu sprechen. Über sie, über Berlin und darüber, dass sie einen neuen Freund hatte. Sicher nicht darüber, was ich darüber dachte, dass sie einen neuen Freund hatte. Ich hatte nicht einmal selbst darüber nachdenken wollen, was ich wieso darüber dachte. Stattdessen war ich mit Marie nach Hause gegangen und hatte mich schon am nächsten Morgen gefragt, was ich mir davon eigentlich versprochen hatte. Sie hatte dabei- ganz im Gegensatz zu mir- eine konkretere Idee gehabt und eigentlich sofort angefangen, die umzusetzen. Sie hatte sich ziemlich schnell meinen Ersatzschlüssel unter den Nagel gerissen, sich einige der leeren Schrankfächer gesichert und hatte angefangen, sich um meine Pflanzen zu kümmern, die unter Ingas Abwesenheit sichtlich gelitten hatten. Sie hatte sich mit viel Energie in mein Leben gedrängt und weil sie dabei das letzte bisschen Inga, das letzte bisschen Druckschmerz verdrängte, hatte ich es geschehen lassen. Es- ich- war nicht fair gewesen. Wir hatten nicht zusammengepasst und ich hatte das von Anfang an gespürt. Juan und Daniel hatten mich sehr offen gefragt, ob ich Probleme mit dem Alleinsein hätte oder weswegen es ausgerechnet Marie sein müsste. Nicht ganz einfach, ein bisschen verrückt, Klammeraffe. Das waren die schmeichelhafteren Beschreibungen, die die beiden für sie übrig gehabt hatten. Und ich hatte dem wenig entgegengesetzt- was an sich schon gemein gewesen war. Marie hatte es wirklich versucht- aber sie hatte keine Chance gehabt. Ich schämte mich für diese Episode, weil ich dieses schräge Chaos zugelassen hatte, bei dem jemand neben mir eingeschlafen und aufgewacht war, den ich nicht kannte und der mir erschreckend wenig bedeutet hatte. Und weil ich selbst nicht hatte wahrhaben wollen, dass das niemals eine Zukunft gehabt hatte. Weil ich sie irgendwie trotzdem gemocht hatte, aber lange nicht genug; und weil ich mir sicher war, dass Marie an ihre nächste Beziehung wohl kaum mehr so unvoreingenommen herangehen würde.
Ich zitterte längst, als ich das kalte Wasser resigniert abstellte. Der Gedanke an Marie machte mich jedes Mal bitter. Ich war einfach nicht stolz darauf, wie das gelaufen war. Mit schweren Armen rubbelte ich meine Haare trocken und meine Augen brannten trotz der langen Dusche noch vor Müdigkeit. Ich warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel und beschloss, mich nicht zu rasieren- ich sah so fertig aus, dass ich mir die Schadensbegrenzung gleich sparte. Es war lächerlich, wie mich eine Nacht ohne Schlaf mittlerweile ausknockte. Ich verlegte das Zähneputzen aufs Bett, um mich nicht selbst anstarren zu müssen, während ich checkte, ob es Neuigkeiten gab und darauf hoffte, dass irgendetwas passiert war, dass meinen Kopf eine Weile beschäftigen würde.
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Würde sagen, Lukas ist topfit für sein Treffen mit Inga.
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Lieblingstag
Novela JuvenilInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...