Inga schob ihre Hand in die Tüte mit dem Fruchtgummi, ohne ihren Blick von meinem Matheheft zu nehmen. „Sieht gut aus.", murmelte sie und nickte anerkennend, während sie sich zwei saure Colaflaschen auf einmal in den Mund steckte. „Wenn du das jetzt noch sauber aufschreibst und nicht zusammenhanglos durcheinanderkritzelst, dann kann man das nicht mehr falsch verstehen. Auch wenn man will." Sie grinste, richtete sich auf und streckte sich sichtlich zufrieden. „Ich wusste doch, dass du nicht doof bist."
„Na, danke.", erwiderte ich grinsend und trank einen Schluck von Zitronenlimonade, die Ingas Mutter uns hochgebracht hatte. Wir saßen an Ingas großem Schreibtisch, der direkt vor dem weit geöffneten Fenster stand. Der Blick auf den gepflegten Garten, in dem es jetzt, Mitte Mai, blühte und duftete, war so viel schöner als der aus meinem. Die lichtschluckende Tanne und ich hatten noch keinen Frieden miteinander geschlossen. Das dunkle Feldmann-Haus hatte zwar in den letzten Wochen seinen akuten Schrecken eingebüßt, aber trotzdem konnte ich es nicht erwarten, bis Julian etwas Neues fand. Er selbst war das Gejammer von Kim und mir so leid, dass er sich in der vergangenen Woche vier Wohnungen angeguckt hatte. Bei der letzten hatte er mich mitgenommen, weil er eigentlich guter Dinge gewesen war. Beim Anblick der schwarz schimmelnden Küche hatte er sich auf dem Absatz umgedreht und den entgeistert Vermieter gefragt, ob er wohl selbst mit seinen Kindern in diese Wohnung einziehen würde. Der war rot angelaufen und hatte betreten geschwiegen. Seitdem hatte ich eine neue Wertschätzung für das bedrückende, aber immerhin nicht gesundheitsgefährdende Haus im langen Schatten der Tanne.
„Ich wette, die nächste Mathearbeit wird mindestens eine Drei.", sagte Inga und steckte ihren Stift zurück in ihr Etui. „Wenn du deine Nerven behältst."
„Besser wäre es.", erwiderte ich und versuchte nicht zu intensiv an die Fünf mit dem sehr hässlichen Minus zu denken, die ich wenige Tage nach meinem ersten James-Bond-Abenteuer geschrieben hatte. Als ich die mit nach Hause gebracht hat, hatte Julian uns beiden nach einem ersten entgeisterten Blick einen zweiten und einen dritten Bond verordnet- und am nächsten Morgen Ingas Eltern angerufen, um das mit der Nachhilfe festzuzurren. Inga bekam jetzt nicht mehr nur heimlich Fruchtgummi, sondern auch ganz offiziell fünfzehn Euro. Für den Stundenlohn arbeitete sie zweimal die Woche alles mit mir auf, was ich in meiner Klinikzeit verpasst hatte und ihre Mutter versorgte uns dabei wahlweise mit Obst, frischgepresstem Orangensaft oder selbstgemachter Zitronenlimonade, die ich nach einer Gewöhnungszeit sogar anfing zu mögen. Limo ohne Zucker war eben schon sehr anders.
„Was machst du heute noch?", fragte Inga und fing meinen Blick auf, der sehnsüchtig in ihren Garten ging.
„Hausaufgaben.", sagte ich mit einem Schulterzucken. Tatsächlich blieb für vielmehr keine Zeit. Wir hatten bis zum frühen Nachmittag Schule gehabt, dann die Nachhilfe und ich musste noch eine Gedichtanalyse zu schreiben.
„Schade." Sie zuckte mit den Schultern. „Du hättest mit ins Freibad kommen können. Die halbe Klasse ist da."
Freibad. Unwillkürlich zuckte meine Hand zu meinem linken Unterarm, der vom Ärmel meines dünnen Pullovers verdeckt wurde. Freibad war noch eine ganze Weile keine Option. Ich nahm bei zunehmend warmem Wetter sogar langärmlige Sportklamotten in Kauf, um keinen sozialen Tod zu sterben und so sehr ich den beginnenden Sommer liebte, so sehr wünschte ich mir Pulloverwetter zurück. Bevor ich wieder halbwegs gefahrlos kurze Ärmel tragen konnte, würde es noch Wochen, vielleicht Monate dauern. Wenn ich am Stall war, wo mir niemand blöd kam, hielt ich meine Arme so oft und so lange es ging in die warme Sonne, weil ich mir zumindest einbildete, dass die roten Linien auf gebräunter Haut weniger auffielen.
„Nächstes Mal.", sagte ich, zwang mir ein Lächeln auf meine Lippen und wollte gerade aufstehen, als sie mir unvermittelt die Hand auf den Unterarm legte.
„Du, Lukas...." Sie zögerte und brauchte einen zweiten Anlauf, bevor sie aussprechen konnte, was ihr auf der Zunge lag. „Es hat die Runde gemacht, dass deine Eltern sich getrennt haben. Bist du okay? Ich meine, du sprichst nie darüber oder so, aber..."
„Das sind nicht meine Eltern, Inga.", sagte ich schroff, schüttelte ihre Hand ab und stand auf. „Meine Eltern sind tot. Sina und Julian sind Pflegeeltern."
„Sorry.", murmelte sie und zog die Schultern hoch. „Reflex. Trotzdem- bist du okay?"
„Extrem okay." Eilig stopfte ich meine Mathesachen zurück in meinen Rucksack. „Ich schlafe woanders als vorher. Sonst hat sich nichts geändert."
„Sicher?", hakte sie nach und beobachtete aus ihren großen, hellen braunen Augen, wie ich den Reißverschluss mit einem Ruck zuzog.
„Extrem sicher." Ich schulterte meinen Rucksack und bekam ein schlechtes Gewissen, als ich ihren ungewohnt zaghaften Blick auf mir spürte. „Komm mal vorbei, wenn wir umgezogen sind. Im Ernst, so krass anders lebt es sich in einer Pflegefamilie nicht. Wir schlafen in normalen Betten und essen auch mit Messer und Gabel. Alles ganz zivilisiert."
„Deal." Der angespannte Gesichtsausdruck auf Ingas Gesichtsausdruck löste sich auf und sie wirkte durch und durch erleichtert. „Hauptsache ich muss nicht auf diesen Pferdehof. Ohne Witz, diese Viecher haben riesige Zähne und gleich vier lebensgefährliche Beine."
„Meistens sind die ganz lieb.", verteidigte ich schmunzelnd Lugars Ehre, wenngleich ich an seine Teufelshörner denken musste.
„Ja, sicher, Sachsenberg. Und am Ende reißen die mir ein Stück Fleisch aus dem Arm." Sie lachte schnaubend und erhob sich, um mich rauszubringen. „Ich besuche dich, aber nicht bei den Thestralen."
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Ob Inga Thestrale auch sehen kann? Oder hat sie nur zu viel Harry Potter gelesen? Oder ob sie als Kind von einem widerborstigen Shetty gepurzelt ist?
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Lieblingstag
Ficção AdolescenteInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...