Kapitel 22: Tektonisches Beben (3)

84 12 4
                                    


Lukas


Felix behielt sein Geheimnis für sich, als Julian und Sina pünktlich um halb sechs vor meiner Wohnungstür standen. Er sagte auch nichts, als Sina sich räusperte, zu sich heranzitierte, um ihn dann am Ohr in eine Umarmung zu ziehen, aus der er sich nicht befreien konnte. Sie war erleichtert- und sauer, was sie am Telefon noch gut hatte verbergen können. Julian hatte eine tiefe Sorgenfalte auf der Stirn und ich war froh darüber, dass Felix und ich uns darauf geeinigt hatten, die Erlebnisse vom Freitagabend in abgespeckter Form zu erzählen. Die Party bei Pia- und damit auch Felix nächtlicher Trip allein durch Berlin- blieb unerzählt. Auf die Frage nach dem Warum gab Felix keine richtige Antwort. Er guckte mich nur an und murmelte, er habe mich eben sehen wollen. Sina stand ins Gesicht geschrieben, dass sie ihm kein Wort glaubte und Julian sah man an, dass er eine ganze Reihe von Nachfragen mühsam herunterschluckte. Bis er zuhause war würde Felix denen vielleicht entgehen können, aber sicher keine Sekunde länger. Richtig glücklich wirkten jedenfalls beide nicht, als sie fragten, ob wir nicht vor der Heimfahrt noch zusammen essen gehen wollten. Felix, der die lange Autofahrt mit den beiden herauszögern wollte, stimmte zu- und ich nickte ebenfalls.

Ich schlug ein Restaurant in der Nähe vor und als wir uns nach einer kurzen Wohnungsbesichtigung zu Fuß auf den Weg machten, hakte Sina sich bei mir ein, nur um wenige Augenblicke später ihre Schritte zu verlangsamen und sich mit mir einige Meter zurückfallen zu lassen.

„Wie geht es dir?", fragte sie ohne Umschweife.

„Mir?"

„Ja, Fremder."

„Fremder...", murmelte ich.

„Du schottest dich ab, Lukas."

Für einen Moment wollte ich das reflexartig abstreiten, aber dann sah ich zu ihr herunter und wusste, dass es keinen Zweck hatte. „Ich arbeite viel. Es läuft nicht. Es ist anstrengend und frustrierend und..."

Sie musste nicht viel sagen, während wir den anderen beiden folgten. Sie erfuhr auch so, was ich auch Felix schon anvertraut hatte: dass ich ins Schwimmen geraten war und der rettende Rand noch nicht wieder in Reichweite war. Ich erwartete schon fast, dass sie mir dazu raten würde, die Promotion abzubrechen, zu kündigen und neu anzufangen, irgendetwas anderes anzufangen, aber als ich andeutete, dass ich den Gedanken manchmal hatte, warf sie mir einen Blick zu, der mich daran erinnerte, wer sie war.

„Du überlegst, ob du aufgibst?" Es war ihrer Stimme anzuhören, dass sie sich darum bemühte, ihre Meinung zurückzuhalten- aber es war zwecklos.

„Ich weiß, Aufgeben ist nicht so deins, aber..."

„Du hast doch gerade erst angefangen. Was sind schon ein paar Monate?"

Ich versuchte ihr zu erklären, wie ich hilflos von einer Idee zur nächsten trieb, wie ich tausend Dinge anfangen wollte, aber nichts schaffte. Ich erzählte von der Frustration, die manchmal so übermächtig war, dass ich mich selbst nicht aushielt und von den tausend Dingen, die ich können sollte und nicht konnte. Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als wir das Restaurant erreichten und Felix und Julian vor der Tür stehen blieben, um auf uns zu warten.

„Später.", versprach sie. „Später, Lukas."



Und obwohl sie nichts gesagt hatte, obwohl Felix nachdenklich in seine Apfelschorle schaute und Julian mit bohrendem Blick, aber stumm versuchte herauszufinden, weswegen er eigentlich gerade in Berlin zu Abend aß, entspannte ich mich, kaum, dass das Essen auf dem Tisch stand. Ich genoss es, von zu Hause zu hören, von unseren Rentnern, von Nikita, von Julians Turnierwochenende und von Sinas Eltern, die eine Reise nach der anderen machten, um so viel wie möglich von der Welt zu sehen. Den Grund dafür ließen wir alle unerwähnt und schmunzelten stattdessen über ein Foto der beiden mit sonnenverbrannten Gesichtern und Cocktails in der Hand. Sie sahen auf jeden Fall so aus, als könnten sie es auf Curacao noch ein bisschen aushalten und als wären sie für den Moment weit genug von entfernt von dem Gedanken, dass Sinas Mutter sich vielleicht nicht lange an diese Reise erinnern würde.

LieblingstagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt