Kapitel 12: Sicherheitsnetz (3)

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Ich hatte mich im Griff gehabt, während ich mit Julian gesprochen hatte und auch während der Fahrt nach Hause. Und auch, während ich meine Reisetasche die Treppe hochschleppte, hatte ich mich noch im Griff. Die Tasche war schwerer als üblich. Ich hatte nicht wie sonst Klamotten für zwei, vielleicht drei Tage dabei, sondern einfach so viel eingepackt, dass ich wusste, dass ich damit eine Weile auskommen würde. Mein Laptop lag zwischen den Pullis und meine Sportschuhe hatte ich am Tragegurt der Tasche festgebunden. Als ich mich durchs Treppenhaus gekämpft hatte und vor der Tür zur Dachgeschosswohnung nach meinem Schlüssel kramte, hörte ich schon die Schritte im Wohnungsflur. Julian machte mir auf, noch bevor ich den richtigen Schlüssel hatte greifen können.

„Da bist du ja."

„Da bin ich, ja.", murmelte ich, machte einen, zwei Schritte über die Türschwelle, atmete einmal ein und registrierte den Geruch nach Kakao, der sich mit dem unverwechselbaren Geruch der Wohnung verband. Je eine Prise Pferd, Zitrusfrucht und Kaffee- und Shampoo. Irgendwer hatte gerade geduscht. Die Tür zum Bad stand offen. Aus der Küche hörte ich Stimmengemurmel. Ich ließ meine Tasche zu Boden gleiten und streifte mir nachlässig die Schuhe von den Füßen, während ich Julians Blick auf mir spürte. Auf mir und meinen zu langen Haaren und meinem Bart, den ich seit einer Woche nicht mehr abrasiert hatte. Ich hatte mich einfach nicht aufraffen können.

„Wir sind froh, dass du hier bist.", sagte Julian leise, als ich meine Jacke an die Garderobe gehängt hatte.

„Wir?"

„Sina ist froh. Kim hat sich wahnsinnig Sorgen gemacht und Felix wollte auch nicht ins Bett, bevor er dich nicht gesehen hat."

„Hm.", machte ich und presste meine Lippen zusammen, während ein Fels auf meine Brust und meinen Kehlkopf drückte. Ich blinzelte und versuchte, an Julian vorbei im Bad zu verschwinden, aber stattdessen lief ich in seinen ausgestreckten Arm. Ich wehrte mich keine zwei Sekunden, bevor ich nachgab und mich in eine feste Umarmung ziehen ließ, die mir auf zweierlei Weisen den Atem raubte: Zum einen, weil ich mit Gewalt in mein Zuhause geholt wurde, das nach Kakao, Limette und Kaffee roch und den Gedanken an ein funktionales Sicherheitsnetz Lügen strafte. Zum anderen, weil er mich so festhielt, dass ich gegen den festen Widerstand seines Griffs kaum hätte einatmen können- wenn ich nicht ohnehin die Luft angehalten hätte.

„Warum hast du nicht angerufen?"

Die Frage blieb unbeantwortet, weil ich krampfhaft das Luftholen vermied, um nicht geräuschvoll aufzuschluchzen. Ich wollte das nicht. Nicht, während ich auf seiner Schulter hing, zwei Zentimeter von seinem Ohr entfernt.

„Lukas..." Er strich mir fest über den Rücken, auch, als meine Lunge das Einatmen erzwang und sein Pullover feuchte Flecken von meinen Tränen bekam. Ich war ihm nie dankbarer dafür gewesen, nicht der Typ für die hohlen „Alles wird gut-Phrasen" zu sein wie in dem Moment. Er sagte nichts, während ich inmitten dieser Umarmung zusammenklappte und angestrengt versuchte, das Wort Sicherheitsnetz nicht zu denken. Die Frage, was ich für ihn und für Sina war- und was die beiden für mich waren- hatte ich mir in den letzten Wochen so oft gestellt, dass ich die Antwort darauf ausgehöhlt hatte-was die Kernschmelze auf Julians Schulter noch schwieriger und schmerzhafter machte, als sie ohnehin gewesen wäre. Diese Familiensache und das Nachhausekommen gossen Öl in jenes Feuer, von dem ich bis zu diesem Moment gar nicht gewusst hatte, dass es mir etwas anhaben konnte: die Frau, die ich liebte und mit der ich ein Leben geplant hatte, hatte mich verlassen. Weil sie Angst gehabt hatte, mir eben dieses Leben nicht geben zu können und nicht, weil wir nicht zueinander gehört hatten, sondern weil die Biologie einen Felsbrocken nach ihr geworfen hatte. Und während sie versuchte, unter diesem Felsbrocken zu leben, wollte ich ihn wegräumen. Und konnte nicht und durfte nicht.

„Sie hat mich verlassen, weil sie keine Kinder adoptieren will." Dieser zusammenhanglose Satz, der Julian vermutlich im ersten Moment noch ratloser machte als Schweigen es je gekonnt hatte, war das Einzige, was ich herausbekam. Es war ein Fragment der Wahrheit, aber irgendwie das Bruchstück, dass an allen Kanten ansetzte. Ich spürte, wie Julian das verarbeitete, wie er versuchte, den Sinn in meiner Aussage zu suchen, bevor er mich sachte zurückschob und mir direkt in mein verheultes Gesicht sah.

„Das tut mir so leid, Lukas." Was auch immer er sich in dem Moment für einen Reim auf meine Aussage machte, war nahe genug an der Wahrheit, um ihn ernsthaft betroffen zu machen.

Ich nickte und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, während wir immer noch im Flur standen. „Ich will nicht darüber sprechen.", brachte ich mühsam hervor, als er zu einer Frage ansetzte. „Nicht heute."

„Okay." Er vergewisserte sich mit einem letzten, bohrenden Blick, dass ich das ernst meinte und rang sich dann ein Lächeln ab. „Dann komme mit. Der Kakao wartet."



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Und was meint ihr? Ist Lukas weich gelandet? ;)

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