Kapitel 18: Aus dem gleichen Holz (6)

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Es war fast Mitternacht, als ich die Bettdecke zurückschlug und frustriert die Beine aus dem Bett schwang. Es hatte keinen Sinn- ich würde nicht einschlafen. Und das lag nicht an den zwei Bier, die ich über den Abend verteilt getrunken hatte. Irgendwie lag es an Kim, die sich eine Wand weiter wohl längst neben Paul eingerollt hatte und schlief. Irgendwie lag es an Paul, der sich so sehr die Beine für sie ausriss, dass ich ihn kaum zu fassen gekriegt hatte bei diesem Besuch. Und irgendwie lag es an Lukas, der auf Kims unmögliche Frage eigentlich gar nicht reagiert hatte. Stattdessen hatte er, nachdem man gesehen hatte, wie der Schreck in ihm gearbeitet hatte, sich zu einem süffisanten Lächeln durchgerungen, war aufgestanden, hatte in Pauls Richtung genickt und ihr leise „Du wirst mich noch verstehen." zugeraunt, bevor er in Richtung Toilette verschwunden war. Kim hatte ihm ratlos hinterhergesehen, einen irritierten Blick auf Paul geworfen und dann mit den Schultern gezuckt.

„Was auch immer Paul jetzt mit Inga zu tun hat."; hatte sie gemurmelt, geseufzt und sich auf Lukas' leeren Platz fallen lassen.

Den Rest des Abends hatte Lukas bei Anna und Malte gesessen und ich hatte wenig von ihm mitbekommen. Im Auto, als wir beide auf der Rückbank saßen und ich den dunkler werdenden Bluterguss um seine Augenbraue herum aus der Nähe betrachtet hatte, hatte ich mich nochmal, ernsthafter, entschuldigt, aber er hatte nur eine wegwerfende Handbewegung gemacht. „Passiert halt, Pia."

Passiert halt. Es war dieses passiert-halt-Gefühl, dass mich jetzt wach hielt. In Berlin noch hatte ich es mit Macht einfach nicht passieren lassen wollen. Weil es- wieder einmal- garantiert nur mir passiert war und nicht ihm. Weil mein schlecht verkabelter Kopf einfach von einer Enttäuschung zur nächsten Gelegenheit sprang, ohne innezuhalten, weil ich das wusste und weil mich meine kribbelige Begeisterung ziemlich sicher wieder alle Vorsicht über Bord werfen lassen würde. So wie es eigentlich schon passiert war, in Berlin, als er dann trotzdem auf dem Sofa eingeschlafen war. Meine Gedanken drehten sich und ich konnte nichts dagegen tun. Weil er mir halt passiert war. Und jetzt bekam ich ihn nicht mehr auf meinem Kopf.

Seufzend stolperte ich durch Kims Chaos auf dem Fußboden, an Kisten und herumliegenden Klamotten vorbei zum Fenster und sah Richtung Stall. Nach den letzten Monaten, in denen hunderte Kilometer zwischen meinem Pony und mir gelegen hatten, war es seltsam, Niro wieder in meiner Nähe zu wissen. Ich hatte mir vorgestellt, mein Pony einfach zu satteln und loszureiten und dabei zu vergessen, dass er im Moment eben nicht so richtig mein Pony war. Aber das funktionierte nicht. Dazu war er zu schnell und zu bereitwillig Felix' Pony geworden. Sei doch froh.", meldete sich leise und aufrichtig der Teil von mir, der wusste, dass ich keine andere Entscheidung hätte treffen können. Und natürlich hatte dieser Teil Recht. Was hätte ich davon gehabt, hier einen Niro zu finden, der mir am liebsten auf den Arm gekrochen und einen enttäuschten Felix keines Blickes gewürdigt hätte? Bauchschmerzen vermutlich. „Lass ihn halt los, blöde Kuh.", flüsterte ich leise mir selbst zu, bevor ich einen weiteren Blick auf meine Uhr warf. Es war wirklich spät. Zu spät, um noch im Stall vorbeizusehen, in dem pünktlich um zehn die Lichter ausgingen. Die Sache mit der Stallruhe war hier wirklich kein Scherz, das wusste ich, und trotzdem zog ich mir meinen dicken, ausgeleierten Winterpulli über, stieg mit meinen dicken Wollsocken in meine Turnschuhe, griff Kims Schlüssel und schlich in Leggings auf Zehenspitzen durchs Treppenhaus nach draußen, wo mich die feuchte Nachtluft ungeahnt kalt empfing. Egal, für die paar Minuten egal, dachte ich und warf einen Blick hoch zu dem großen Wohnhaus in meinem Rücken, als wollte ich mich davon überzeugen, dass mich niemand beobachtete. Als wäre ich im Begriff, etwas furchtbar Verbotenes zu tun und nicht einfach nur nach meinem Pony zu sehen. Aber hinter mir war alles dunkel, nicht in einem Zimmerfenster brannte Licht. Auch oben unterm Dach war alles finster und ich hoffte inständig, Sina würde nicht mit Argusaugen darauf lauern, ob irgendjemand, der es schon hinter das Hoftor geschafft hatte, noch verbotenerweise den Stall betrat. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf und meine Schultern hoch, als ein kaum spürbarer Windzug mir eine unangenehm prickelnde Ganzkörpergänsehaut bescherte und huschte dann eilig über den Hof zum Stall. Das große Tor war zu, aber daran ging ich sowieso vorbei, an der Außenwand entlang, bis ich das Fenster von Niros Box gefunden hatte.

„Pummel.", rief ich im Flüsterton und schielte in die Box, in der Niro langsam die Reste seiner Heuration fraß. „Niro!" Er hob kurz den Kopf, schnaubte einmal und fraß weiter. „Immer diese Ignoranz.", schimpfte ich, ohne es zu meinen, bevor ich etwas tat, was ich Jahre zuvor sicherlich mehrmals die Woche getan hatte. Ich stellte mich mit dem Rücken zur Wand an Niros Fenster, setzte meine Hände auf die untere Fensterkante, sprang ab und stemmte mich hoch. Ich brauchte einen zweiten Anlauf, bis ich in der Fensternische saß, mich zur Seite wandte, meinen Rücken gegen die Wand lehnte und eins meiner Beine in die Box und das andere nach außen hängen ließ. So hatte ich früher nach dem Training regelmäßig auf meine Mutter gewartet, wenn Kim und Paul nicht greifbar gewesen waren. „Niro.", flüsterte ich noch einmal auffordernd in die Dunkelheit und dieses Mal löste er sich von seinem Heu und kam zu mir ans Fenster. Neugierig schnupperte er erst an meinem Fuß, dann an meinem Pulli und meiner Hand und schließlich schob er seinen Kopf an mir vorbei und guckte nach draußen, während ich seine kleinen Ponyohren kraulte. „Dickes Pony.", murmelte ich und als er neben mir tief ausatmete und entspannt seine Augen schloss, ließ ich meinen Kopf gegen seinen Hals sinken. „Dickes, stures, bestes Pony." Und obwohl mir in dem Moment eine vereinzelte Träne über die Wange lief, war ich nicht unglücklich. Es war nicht zu beschreiben. Er war da- so wie schon quasi immer. Und er war zuhause. Nicht mehr in seinem Offenstall mit seiner Ponybande, aber immerhin da, wo er und ich viel Zeit gemeinsam verbracht hatten. Und er war doch noch er, das bemerkte ich mit einem Lachen, als er sich nach Minuten der Tasche an meinem Pullover zuwandte und sofort unter kräftigem Oberlippeneinsatz auf die Suche nach Leckerchen ging. „Ich habe nichts.", gluckste ich, ließ ihn aber gewähren und ordnete seinen Schopf. „Erst morgen und nur, wenn keiner guckt. Sonst kriegen wir Ärger mit Fe..."

Das letzte Wort blieb mir im Hals stecken, als ohne Vorwarnung und mit einem Schlag die LED-Strahler im Stall angingen und alles- inklusive mich- in helles Licht tauchten. 


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Zack- erwischt? ;)

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