12 Jahre zuvor an jenem Wochenende im Frühsommer
„Fahre uns dahin.", beharrte Kim und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Fahre uns zu Mama!"
„Nein, das mache ich nicht." Ungewöhnlich deutlich für ihre Verhältnisse ließ Dorothea Feldmann Kim abblitzen. „Euer Vater ist zu ihr ins Krankenhaus gefahren. Sie ist nicht alleine. Ihr wärt da nur im Weg."
„Wo ist Mama?", fragte Felix verdutzt, weil er die Tragweite von „Sie hatte einen Unfall und ist ins Krankenhaus gebracht worden" nicht verstand.
„Du bist so dumm!", fauchte Kim ihn aufgebracht an. „Im Krankenhaus. Das hat Oma doch gesagt."
„Wie schlimm ist es denn?", fragte ich und klammerte meine Hände fest um das Buch in dem gelb-grünen Einband, auf dem der gelbe Bär seinen Kopf tief in einen Honigtopf steckte. Immerhin nicht die Biografie von Helmut Schmidt. Dieser Gedanke zuckte wiederholt und komplett unpassend durch meinen Kopf.
„Das weiß ich nicht, Lukas. Bestimmt nicht schlimm."
„Woher willst du das wissen?" Kim funkelte sie böse an. „Hat Papa das gesagt?"
„Das hat er nicht gesagt, Kim, aber deine Mutter ist zäh. Die ist bestimmt schon wütend auf sich selbst, weil sie die Prüfung nicht beenden kann. Du kennst sie doch." Der unausgesprochene Vorwurf in ihrer Stimme machte mich dabei fast wahnsinnig.
„Mama ist im Krankenhaus?" Auf Felix Gesicht schlich sich ein verängstigter Gesichtsausdruck und er griff nach dem erstbesten, was er zu fassen bekam. Seine Finger krallten sich in meinen Pulloversaum, während er hilfesuchend zu Kim sah.
„Blitzmerker!", pampte sie und bearbeitete weiter ihre Großmutter, die sie zu Sina fahren sollte.
Ich saß nur wie gelähmt da. Sie war im Krankenhaus. Das konnte alles und nichts heißen. Alles und nichts. Meinen Vater hatten sie damals auch noch ins Krankenhaus gebracht. Der Gedanke schwirrte parallel zu dem an Helmut Schmidts Biografie in meinem Kopf herum. Wann immer sie kollidierten, musste ich absurderweise fast lachen.
„Lukas?" Felix zupfte an meinem Pullover. „Was heißt das?"
„Nichts, Felix.", murmelte ich, während die wirbelnden Gedanken in meinem Kopf weiter Fahrt aufnahmen. Ich warf einen Blick auf Kim und sah, wie die Wut hinter ihren Augen mal wieder außer Kontrolle zu geraten drohte. Ich packte sie in diesem Moment nicht. Die Angst, die sie gerade hatte, war dem zu nah, was ich mal gefühlt hatte. Ich ertrug das nicht. Ich ertrug sie nicht. Ich ertrug nicht, dass Dorothea uns nicht fahren wollte. Ohne weiter auf Kim und ihre Großmutter einzugehen, nahm ich Felix auf den Arm, nahm das Buch in die freie Hand und schleppte ihn mit nach oben in mein Zimmer.
„Was ist mit Mama?", fragte Felix, kaum, dass ich ihn vor meinem Bett abgesetzt hatte und er hochgeklettert war.
„Weiß ich nicht." , antwortete ich wahrheitsgemäß und ließ mich mit dem Buch in der Hand neben ihn sinken. „Ich habe keine Ahnung, Felix. Dein Papa ruft bestimmt gleich an und sagt Bescheid." Mit jeder Faser meines Körpers versuchte ich mir vorzustellen, wie das Telefon klingeln und Julian Bescheid geben würde, dass Sina ein verstauchtes Handgelenk hätte. Oder eine Gehirnerschütterung. Vielleicht einen gebrochenen Fuß. Sowas eben. Harmlos eben.
„Wann ist gleich?"
Bitte ganz bald. Bitte jetzt. Ich sah mit flauem Gefühl im Magen und einer rasant wachsenden inneren Unruhe, die mich längst nicht nur an Igelbälle und Chilischoten denken ließ, auf Felix herab. Seine Augen sehnten das sofort noch mehr herbei als meine. Ich konnte jetzt nicht durchdrehen. Ganz sicher durfte ich vor dem Zwerg nicht durchdrehen. „Gleich ist, wenn wir das Buch fertig haben.", sagte ich und versuchte angestrengt zu lächeln, während ich das gelb-grün eingebundene Buch aufschlug und ein Stoßgebet gen Himmel schickte, dass gleich nicht weiter als ein paar Seiten entfernt war.
„Hmm...." Felix rutschte noch ein Stück näher an mich heran, bis er die Zeichnung im Buch gut sehen konnte. „Stimmt."
Ich hatte ihm gerade erklärt, dass ein Esel ein kleines Pferd mit langen Ohren war und er schien damit ganz einverstanden, während er die Zeichnung von I-Ah betrachtete. Als ich weiterlas, machte er keine Anstalten wieder von meinem Schoß herunterzukrabbeln, ließ sich jede Zeichnung von mir beschreiben und unterbrach mich spätestens alle paar Sätze, weil er etwas nicht verstand. Vermutlich hätte er Bilderbücher besser verstanden als die Geschichte von dem Bären und seinen tierischen Freunden, aber er meckerte nicht und ich...ich mochte das Buch. Ich hatte es immer gemocht. Meine Mutter hatte nicht nur Karlsson vom Dach vorgelesen. Wir hatten eine ganze Schrankwand voller Kinderbücher gehabt und die Abenteuer des vermeintlich dummen Bären hatte ich mehr als einmal gehört und später selbst gelesen. Jetzt, nach Jahren wieder da einzutauchen, während meine Beine unter Felix' Gewicht langsam einschliefen, war seltsam. Seltsam und seltsamerweise tröstend, während ich versuchte, das Vergehen der Zeit zu ignorieren. Ich war nicht dumm genug, um nicht längst bemerkt zu haben, dass Julians Anruf für ein verstauchtes Handgelenk oder einen gebrochenen Fuß längst viel zu lange auf sich warten ließ und mit jeder verstreichenden Minute wollte ich mehr und gleichzeitig weniger wissen, was passiert war. Felix unterbrach meinen Lesefluss, um mich zu fragen, ob wir vielleicht auch Honig zu Mittag essen könnten und über die Absurdität der Frage musste ich trotz meiner Anspannung grinsen. Der Zwerg hasste Honig und ich war mir sicher, dass ihm das nach dem ersten Bissen auch wieder einfallen würde. „Bestimmt.", erwiderte ich und registrierte neben dem erleichterten Seufzen, mit dem Felix seinen Kopf an meinem Oberarm ablegte auch ein herzhaftes Gähnen. Ich beeilte mich weiterzulesen, bevor auch ihm die Frage nach dem gleich wieder in den Sinn kommen konnte. Ich hätte ihn nicht mehr glaubhaft beruhigen können, weil ich mich selbst nicht mehr beruhigen konnte. Umso erleichterter war ich, als der Zwerg keine zehn Minuten später an meiner Seite herunterrutschte, seinen Kopf auf meinem Oberschenkel ablegte und seinen Mittagsschlaf hielt, während ich mit gemischten Gefühlen das Buch zur Seite legte.
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Ach ja, der Zwerg. Ach ja, Lukas. Hat vielleicht mehr Empathie als ihm gut tut, oder?
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Lieblingstag
Novela JuvenilInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...