Kapitel 23: Tsunami (8)

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Lukas

Meine Haare und meine Klamotten waren durchweicht vom andauernden Nieselregen, der sich mit Hilfe des Windes durch meine Jacke und meine Schuhe gefressen hatte. Das Handy in meiner Hosentasche war so schwer, dass es drohte, mich durch den Asphalt und die Erdkruste gleich dazu abwärts zu ziehen. Ich hatte Inga angerufen und keine Antwort bekommen. Ich hatte ihr eine Nachricht geschrieben und auch darauf keine Antwort bekommen. Mir war kalt und schlecht und zum ersten Mal seit Jahren war ich mit einer quälenden Angst wirklich allein. Sina war wütend. Inga ging nicht ans Telefon. Pia war die letzte Person, die ich anrufen würde, bevor ich nicht mit Inga gesprochen hätte. Kim konnte ich nicht anrufen, weil Pia bei ihr in Renesse war. Felix kam aus tausend Gründen nicht in Frage. Ich hätte Daniel oder Juan angerufen, aber ich wollte nicht das Gerücht in die Welt setzen, Inga sei schwanger- möglicherweise von mir. Dazu war der gemeinsame Bekanntenkreis zu groß. Und der Felsen, gegen den ich mich seit Jahren immer hatte treiben lassen können, wenn wirklich gar nichts mehr ging, hatte mich abprallen lassen. Sinas Wut war ein schwacher Abklatsch gegen das, was Julian für mich parat gehabt hatte. Er sprach nicht mehr mit mir. Er hatte mich, kaum, dass Sina ihm trocken und schonungslos erzählt hatte, dass ich möglicherweise seine größte Angst hatte wahrwerden lassen, beiseite genommen. Ich wusste nicht, womit ich gerechnet hatte, aber nicht mit der unversöhnlichen Wut, die die Vorwürfe begleitet hatte. Wie verantwortungslos, wie naiv, wie dumm. Seine Worte hallten nach, hatten einen bleibenden Eindruck hinterlassen und ich wusste, dass er Recht hatte. Trotzdem hatte ich erwartet, dass auch dieser Streit mit einem Hilfsangebot beendet würde- naiv wie ich vielleicht wirklich war. Irgendwie hatte ich gehofft, dass ich am Ende das Gefühl haben würde, das alles, was auch immer am Ende wirklich passieren würde, schon schaffbar sei. Stattdessen hatte mich Panik erfasst. Was wenn?

Was, wenn sie wirklich schwanger war? Was, wenn wirklich nicht klar war, von wem das Kind war? Wie würden dann die nächsten Monate aussehen? Wie die Zeit danach? Was war mit Mark? Jede einzelne dieser Fragen machte mir eine höllische Angst. Was war mit Pia? Vielleicht hätte diese Frage nicht gerade die sein sollen, die am häufigsten durch meinen Kopf waberte. Ich brauchte keine Fantasie, um mir vorzustellen, dass sie keine Lust darauf hatte, Inga in ihr Leben zu integrieren. Kind inklusive. Pia war zwanzig, Pia studierte, Pia war frei. An ihrer Stelle würde ich die Beine in die Hand nehmen und laufen, wenn... wenn. Ich strich mir die nassen Haare aus der Stirn, während ich mich im Dämmerlicht dem Hotel näherte. Es war kurz nach neun und die Sonne, sowieso hinter lichtschluckenden, grauen Wolken verborgen, ging unter. Würde ich die Beine in die Hand nehmen? Ich wusste nicht, ob ich darauf wirklich eine Antwort hatte. Vielleicht.



Ich ging an dem renovierten Fachwerkhaus vorbei, an den akkurat gestutzten Buchsbäumchen und hätte nur durch die Eingangstür treten müssen, um dem Regen zu entkommen. Stattdessen ließ ich mich auf die Holzbank neben dem Eingang fallen. Ich konnte einfach nicht reingehen, zu Felix ins Zimmer und so tun, als sei alles in Ordnung. Ratlos schob ich meine Hand in die Hosentasche, zog mein Handy heraus, zögerte kurz, rief dann aber doch nochmal Inga an, die wieder nicht abhob. Vielleicht hatte sie keine Ahnung, was ich von ihr wollte. Vielleicht ärgerte sie sich darüber, dass ich vor wenigen Wochen noch gesagt hatte, ich wolle erstmal keinen Kontakt. Vielleicht hatte sie- wie so oft- ihr Handy mal wieder irgendwo liegen lassen und bekam von meinen Versuchen, mit ihr zu sprechen, gar nichts mit. Leise fluchend ging ich die Kontaktliste meines Handys durch, obwohl ich genau wusste, dass es niemanden gab, mit dem ich sprechen sollte, bevor ich nicht von Inga gehört hatte, ob es überhaupt irgendeinen Grund für die Panik gab, die mir tiefer in den Knochen steckte als die feuchte Kälte dieses vermeintlichen Sommerabends. Das dachte ich, als mein Blick an einem Namen hängen blieb, über den ich sonst absichtlich hinweg las. Hanna. Ich wollte sie anrufen und gleichzeitig nicht- wie immer. Ich wollte ihr schreiben und tat es nicht- wie seit Jahren. Ich wollte, dass sie schrieb und anrief und hörte genauso wenig von ihr, wie sie von mir. Meine Schwester und ich hatten keinen Kontakt mehr miteinander. Die letzten Geburtstagsgrüße hatte sie mir zu meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag geschickt. „Schnapszahl, Lukas, mach' was draus." Das war per SMS gekommen. Ich hatte nie geantwortet und seitdem herrschte absolute Funkstille. Wirklich sprechen taten wir nicht mehr, seit ich vor Jahren die Adoptionspapiere unterschrieben hatte. Sie war dagegen gewesen. „Du hast eine Familie. Ich bin deine Familie." Das hatte sie gesagt, bevor ich versucht hatte ihr zu erklären, dass ich mehr als eine Schwester hatte. Wenn Ingas Kind von mir war, dann wurde sie Tante...

Ich strich mir noch einmal mit der Hand die zerzausten Haare zurück, wischte mir nervös den Regen aus der Stirn und räusperte mich. Ich hatte mehr als eine Schwester. An den Gedanken krallte ich mich, als ich Hannas Nummer wählte.  



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Für all die, die sich schon seit Ewigkeiten fragen, was mit Hanna passiert ist ;)

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