Inga
Es war ein Reflex, gegen den ich nichts hätte tun können, selbst, wenn ich gewollt hätte. Ich hatte die Tür aufgemacht, sein Gesicht gesehen und durchgeatmet- und war ihm danach kommentarlos um den Hals gefallen.
„Hi.", machte er nur, erwiderte meinen Klammergriff mit einer ruhigeren Umarmung und lehnte sich dabei schwerer gegen mich, als ich erwartet hätte. Er war klatschnass. Das Wasser tropfte aus seinen Haaren auf meine Schulter und seine durchweichte Jacke gab von der überschüssigen Feuchtigkeit großzügig an meinen Pullover ab. Es hätte mir nicht unwichtiger sein können.
„Luke..." Nach seinem Namen versagten mir die Worte und ich krallte mich unwillkürlich fester an ihn. Ich wollte nicht, dass er mich losließ. Ich wollte nicht daran denken, was ich ihm in Berlin an den Kopf geworfen hatte und wusste gleichzeitig dass wir irgendwann, irgendwann nachdem diese Umarmung endete, darüber sprechen würden.
„Hm..." Er seufzte leise und ich schloss die Augen und wartete darauf, dass die Nähe ihm oder mir zu viel werden würde.
„Du bist klatschnass.", flüsterte ich und spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen, als ich einen zu großen, zu vertrauten Atemzug Lukas nahm und der Impuls, ihn zu küssen mit dem, mich vor ihm zu verstecken kollidierte.
„Ich weiß.", flüsterte er zurück und drückte mich noch einmal fester an sich, bevor er sich von mir löste und einen Schritt zurücktrat. „Ich wollte nur Hallo sagen." Er schob seine Hände in seine Jackentaschen und zog die Schultern hoch. „Ich weiß nicht, ob ich hier sein sollte."
„Aber du bist hier."
„Ja..." Er lachte kurz auf und lächelte dann sein skeptisches Lächeln, mit dem er alles bedachte, bei dem er nicht wusste, was er davon halten sollte. „Bin ich, ja." Er hob den Kopf, als meine Mutter den Kopf aus der Küche steckte, um nachzusehen, wer Weihnachten wohl bei uns geklingelt haben mochte. Als sie Lukas erkannte, weiteten sich ihre Augen und ich sah ihr an, wie sie die Gewohnheit und das Bedürfnis ihn zu umarmen wirksam unterdrückte. Das Erstaunen stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie von einer freudigen Überraschung sprach und dann auf seine tropfenden Klamotten deutete.
„Lukas- soll Niko dir was zum Umziehen leihen?", fragte sie fast hoffnungsvoll. „Bleibst du?"
Ratlos sah Lukas zu mir. „Bleibe ich hier?"
„Klar.", sagte ich leise und spürte, wie ich rot wurde. „Wenn du möchtest, meine ich."
Er nickte und meine Mutter eilte los, um Klamotten von Niko zu holen. Ich streckte auffordernd meine Hand aus, war erleichtert, dass sie nicht zitterte und sah gleichzeitig ungläubig und mit klopfendem Herzen dabei zu, wie Lukas sich seine Jacke auszog und mir reichte. Er blieb wirklich.
Lukas wartete in meinem Zimmer auf mich, als ich mit zwei Bechern heißem Tee nach oben kam. Er stand vor meinem Regal und tat so, als würde er die Bilder, die er alle kannte, genau betrachten. Vielleicht war er so unsicher wie ich bei der Frage, wo er sich hinsetzen sollte. Zumindest dachte ich das so lange, bis er mich bemerkte, mir einen der Becher abnahm und sich damit auf meinen uralten Schreibtischstuhl setzte, während ich auf mein Bett kroch und dort an die Wand gelehnt sitzen blieb. Das skeptische Lächeln auf Lukas Gesicht war noch verschwunden, während er sich im Bad umgezogen hatte. Nikos Sachen waren ihm zu kurz und zu weit und das nackte Stück Haut von Lukas Unterschenkel war eine unerwartete und schmerzhafte Erinnerung daran, dass ich mal jede handbreit Haut dieses Körpers in- und auswendig gekannt hatte. Ich wusste noch immer, an welchen Stellen er kitzelig war und dass er eine winzige Narbe hinter dem rechten Ohr hatte, weil ihm dort als Kind ein Muttermal entfernt worden war. Genau da hatte ich ihn früher geküsst, wenn ich ihn am Wochenende hatte wecken wollen- für Frühstück Plus. Das war einer unserer unzähligen, ätzenden Insider gewesen, über die wir uns vor Lachen durchs Bett gekugelt hatten. Die Erinnerung daran, wie albern wir gewesen waren, zog mir einmal mehr alles zusammen. In diesem Moment jedenfalls, in dem er mir gegenübersaß, gab es keinen Gedanken der mir ferner lag, als der, einer von uns könne sich heute noch ausziehen. Miteinander zu sprechen war schwer genug.
„Luke", setzte ich dennoch zu einem Versuch an und registrierte erleichtert, dass er wenigstens den Kopf hob, um mich anzusehen. Es gab eine Sache, die ich loswerden musste. Nicht nur schriftlich, sondern während wir beide uns gegenübersaßen und uns in die Augen sahen. Ich wollte, dass er wusste, dass ich es ernst meinte. „Es tut mir Leid. Was passiert ist, als du mich besucht hast. Ich...ich wollte eine Brücke wegsprengen und..."
„Ich bin nicht für eine Entschuldigung hier, Ink.", sagte er ruhig, aber ohne Widerspruch zu dulden. „Ich will keine Entschuldigung."
„Warum bist du dann hier?"
Er schwieg und drehte die Tasse zwischen seinen Händen. Der Pfirsichgeruch hätte etwas gemütliches haben können, wenn mein Herzschlag sich nicht nervös beschleunigt hatte. Ich wusste, was es hieß, wenn er sagte, dass er nicht wegen einer Entschuldigung hier war. Das hieß nicht nur, dass er keine Entschuldigung hören wollte, sondern auch, dass er sie nicht annahm.
Er zögerte, bevor er die Augen schloss und den Kopf sinken ließ. „Ich habe gerade meine Tante gesehen.", sagte er Sekunden später und ich rutschte impulsiv nach vorne an die Bettkante. Seine Tante war ein Thema. So wenig, wie Lukas das auch wahrhaben wollte. Die Wut, die er auf sie hatte und die er mit sich herumschleppte, war über die Jahre nicht weniger geworden. Ganz im Gegenteil. Ich erinnerte mich daran, wie er bei den ersten Besuchen auf dem Friedhof, bei denen ich dabei gewesen war, sich immer wieder umgesehen hatte. Er hatte damals gehofft, sie würde auftauchen. Er hatte mit ihr reden wollen. Er hatte keine Vorwürfe für sie gehabt, aber viele Fragen. Wenn er sich eines von ihr gewünscht hatte, dann dass sie ihm dabei half, seine Eltern besser kennenzulernen. Und darauf hatte er immer vergeblich gewartet, bis seine Neugier gekippt und in Wut umgeschlagen war.
„Hast du mit ihr gesprochen?", fragte ich mechanisch, während ich ihn eigentlich umarmen wollte.
Er nickte. „Sie hat es nicht ausgehalten damals.", sagte er und an der Art, wie er in die Ferne schaute, sah ich, dass er es gerade auch kaum aushielt. Ich überwand mich, rutschte vom Bett herunter und ging direkt vor Lukas auf meinem Schreibtischstuhl in die Knie. Er sah über mich hinweg und sein zuckender Kiefermuskel erzählte mehr als er aussprach. „Sie hat Sachen. Keine Ahnung, was. Irgendeinen Kellerraum voll mit Sachen, die angeblich mir gehören."
„Ach, Luke.", seufzte ich und schwieg, weil ich mehr dazu nicht sagen konnte. Stattdessen tat ich etwas, was ich noch vor wenigen Augenblicken nicht hatte kommen sehen. Ich legte mein Unterarme auf seinen Knien ab, bettete mein Kinn darauf und sah stur zu ihm hoch, während er über mich hinweg blinzelte.
„Soll ich das holen?", fragte er in den Raum und schüttelte abwägend den Kopf, bevor er doch den Blick senkte und mich ansah. „Soll ich?"
„Klar sollst du.", sagte ich ruhig und rang die Gewohnheit, ihm aufmunternd ins Knie zu kneifen, nieder. Er nahm meine Entschuldigung nicht an und mein Kopf lag auf seinen Knien. Der Grat, auf der ich mich bewegte, war verdammt schmal- aber ich hatte trotzdem recht. „Aber nicht alleine, nicht sofort und nicht vor dem neuen Jahr. Die Sachen liegen schon ewig in diesem Keller. Deine Tante kann sie noch ein bisschen länger einlagern. Das schuldet sie dir."
Unter meinem Unterarm fing sein linkes Knie an zu zucken und ich machte mich so lange Stück für Stück schwerer, bis ich das Zittern endlich wegdrücken konnte. Lukas sah längst wieder über mich hinweg. „Ich war vor ein paar Monaten da.", sagte er nach einer Weile und fuhr sich noch im gleichen Moment fahrig durch die Haare. „Nachdem ich bei dir war. Sie hat mich nicht mal erkannt. Ich weiß nicht, ob ich die Sachen haben will. Ich weiß nicht, ob ich...." Er unterbrach sich und das Zittern unter meinem rechten Ellbogen nahm zu, bis ich mein Kinn von meinem Ellbogen nehmen musste. Das eisige Gefühl, dass sich in meinem Magen ausgebreitet hatte, klebte mir die Zähne aufeinander. Nachdem er bei mir gewesen war, war er zu seiner Tante gefahren- die ihn nicht erkannt hatte. Ich brauchte nicht viel Fantasie, um mir auszumalen, was er nach der Eskalation zwischen uns bei ihr gesucht und nicht gefunden hatte.
„Bist du danach Zuhause gewesen?", hoffte ich und schaffte es nicht mehr, ihm in die Augen zu sehen.
„Was meinst du denn, wenn du mich nach Zuhause fragst?", fragte er bitter.
„Das weißt du, Luke."
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Lieblingstag
Ficção AdolescenteInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...