Kapitel 23: Tsunami

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Pia


Mir fehlten die Worte, als ich neben Lukas auf der Picknickdecke saß. Baguette und Oliven waren aufgegessen und meine Beine müde, wirklich müde. Wir waren mittags am Nikolassee losgelaufen, von dort aus auf dem Havelhöhenweg zum Grunewaldturm, wo wir auf die Aussichtsplattform geklettert waren, und von dort aus weiter zum Teufelsberg. Wir hatten uns die alte Abhörstation angeguckt, die Aussicht genossen und Graffitis bestaunt- und uns zumindest so lange auf diese Zeitreise eingelassen, bis mein Magen laut geknurrt hatte. Danach hatten wir einen Platz zum Picknicken gesucht und gefunden und Lukas hatte neben Brot und Antipasti zwei Flaschen Radler aus seinem Rucksack gezogen. Lauwarm, aber sehr willkommen. Meine Beine waren müde und jetzt, nach Stunden des Wanderns und Guckens und Redens, ließ mein Kopf zu, einfach schweigend neben Lukas zu sitzen, langsam die Ärmel meines Pullis abzurollen und dabei auf den Sonnenuntergang zu warten. Der ganze Tag war so schön gewesen, so einfach und so unkompliziert, dass das Schweigen sich nicht unangenehm anfühlte. Als Lukas' mir erzählt hatte, dass er mit mir wandern gehen wollte, war ich erst fast enttäuscht gewesen. Irgendwie hatte ich eine andere Vorstellung von einem perfekten ersten Date gehabt. Klassischer, mit mehr Schminke und weniger Mückenstichen. Aussichtsplattformen und Paprikaschoten gefüllt mit Frischkäse hatten wenig gemein mit meinen bisherigen Dates und es hatte bestimmt bis zur Ankunft auf dem Teufelsberg gebraucht, bis mir langsam ins Hirn gesickert war, dass ich diesen Tag vielleicht gerade deswegen so viel mehr genoss.

„Soll man sich nach einem solchen Tag eigentlich erholt oder erholungsbedürftig fühlen?", fragte Lukas schließlich in die Stille zwischen uns, während er sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne hielt und seine Beine lang ausstreckte. Der Anblick war eigentlich Antwort genug auf seine Frage.

„Das kommt drauf an."

„Worauf?", fragte er, drehte mir den Kopf zu und blinzelte mit einem Auge.

„Ob du den Tag anstrengend findest."

Seine Mundwinkel zuckten erst, bevor er offen lächelte. „Nicht besonders, nein."

„Du brauchst also morgen keinen Urlaub von mir? Oder meinetwegen?"

„Ich denke nicht, nein." Er wandte seinen Blick ab, sah geradeaus über die Bäume hinweg und seufzte zufrieden, bevor er auch seinen Oberkörper auf die Decke sinken ließ.

„Denkst du nicht oder denkst du, dass ich dich noch nicht zu Tode genervt habe?", fragte ich belustigt und sah auf ihn herunter, als er sich wohlig streckte. Die Frage ging mir unter anderem so leicht über die Lippen, weil die Antwort so offensichtlich war.

„Ich denke eine ganze Menge, aber nicht, dass du mich nervst.", gab er zurück- und piekte mit dem Zeigefinger gegen mein Knie.

„Darf ich mitdenken?"

„Wenn du darüber nachdenken willst, was wir nächste Woche machen könnten?"

„Wir sehen uns erst nächste Woche wieder?" Ich versuchte, gelassen zu klingen, während ich insgeheim sehr wenig davon hielt, ganze sieben Tage verstreichen zu lassen.

Als Reaktion auf meine Frage rappelte er sich wieder auf und legte die Stirn in Falten. „Ich dachte, morgen gehen wir klettern. Da gibt es nichts zu planen. Oder?"

„Klettern und Pizza?", fragte ich fast ungläubig.

„Klettern und Pizza.", bekräftigte er- und ich gab den Abstand zwischen uns auf und lehnte meine Schulter gegen seine. Ich konnte nichts darauf antworten, weil ich mit einem Schlag einen dicken Kloß im Hals hatte, der nicht daher rührte, dass Lukas irgendetwas falsch gemacht hatte, sondern daher, dass ich mich fragte, wieso es auf einmal so einfach war. So schön und gut. Und wieso er sich nicht plötzlich rarmachte oder eine Freundin aus dem Hut zauberte, die er mit mir betrügen würde. Es war so gut, dass ich nach dem Haken suchte, auch dann noch, als er seinen Arm um meine Schultern schlang und mir vor Schmetterlingen im Bauch schlecht wurde. Ich konnte nicht anders, als meinen Blick von der Stadt und den Baumwipfeln abzuwenden, ihn anzusehen, zu hoffen, dass er diesen perfekten Moment nutzte, zu warten, bis sich unsere Blicke trafen und dann den Augenblick auszuhalten, bis er mich küsste. Mit beiden Händen und geschlossenen Augen, bis die Sonne unterging und wir beide längst Gänsehaut und steife Knie hatten. Es war auch dann noch perfekt, als wir uns voneinander lösten, die Picknickdecke einpackten und mit ineinander verschränkten Fingern den Heimweg antraten.



Lukas


Ich duschte mir die Kälte aus den Knochen und versuchte gleichzeitig Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Ich hatte den Tag so sehr genossen, dass ich zwischendurch mit dem Gedanken gespielt hatte, Pia einfach zu fragen, ob sie mit zu mir kommen wolle. Weil ich gerne noch eine Pizza für uns in den Ofen geschoben hätte und angefangen hätte, mit ihr die Liste von Filmen abzuarbeiten, die sie unbedingt dieses Jahr noch sehen wollte. Pia war, das wusste ich jetzt, eine Listenqueen. Sie schrieb nicht nur Wochen- und Tages- To-Do- Listen, sie verschriftlichte auch, dass sie Felix und Niro dieses Jahr mindestens einmal auf einem Turnier besuchen wollte, dass sie einmal zu Kim fahren und einmal vorbehaltlos Yoga ausprobieren wollte oder eben auch, welche Filme sie in diesem Jahr unbedingt noch sehen musste. Pia unterschied in Ziellisten und Glückslisten und ihr Neujahrsvorsatz war gewesen, ihre Glücksliste genauso akribisch abzuarbeiten wie die ausformulierten Ziele. Ich fand das ziemlich weise und in Anbetracht meinem immer mehr ausufernden Arbeit verlockend. Tatsächlich überlegte ich, während ich aus der Dusche stieg und meine Haare trockenrubbelte, was ich auf meine persönliche Glücksliste schreiben würde. Mir fiel erschreckend wenig ein, was auch, aber nicht nur daran lag, dass mein Kopf hartnäckig um Pia kreiste. Sie hatte, als ich sie nach Hause gebracht und mich an der Haustür von ihr verabschiedet hatte, ziemlich überrascht ausgesehen. Auch vorher, bevor wir überhaupt aufgebrochen waren, hatte ich gemerkt, dass sie nicht so richtig damit gerechnet hatte, dass ich wirklich mit ihr wandern und picknicken wollte. Erst, als wir am Teufelsberg den Heimweg eingeschlagen hatten, hatte mir gedämmert, dass Niklas oder Viktor, von denen sie mir ja noch vor Weihnachten erzählt hatte, vielleicht nicht gerade mit ihr von Aussichtsplattformen auf die Stadt geschaut hatten. Es hatte mich schließlich in meinem Beschluss bestärkt, alleine nach Hause zu gehen. Für sie und für mich wollte ich Zeit. So war ich- und das gestand ich mir endlich ein. Es hatte die missglückte, furchtbar einseitige Beziehung mit Marie gebraucht, um die Vorstellung davon, was nicht zu mir passte, zu schärfen. Ich wusste jetzt ziemlich genau, was ich wollte- und das fühlte sich einfach nur befreiend an.

Ich hatte gemerkt wie meine Klarheit sich in den letzten Wochen und Monaten mehr und mehr zurückgemeldet hatte. Dieser Sumpf, in den ich nach der Trennung hineingeraten und in dessen dichten Nebelschwaden ich mich verlaufen hatte, hatte mittlerweile an Sogwirkung dramatisch eingebüßt. Ich spürte- und vielleicht hatte dieses Date sich gerade deswegen so gut angefühlt- dass ich keine Zeitreise in die Vergangenheit mehr machen wollte. Ich bekam endlich Abstand und damit die Erkenntnis, dass ich noch so viel mehr Abstand wollte. Deswegen hatte ich auch die kryptische Nachricht, die Inga mir vor ein paar Tagen geschickt hatte, so lange ignoriert, bis ich mir der Worte sehr sicher gewesen war, mit denen ich ihr hatte antworten wollen:

„Liebe Inga,

ich weiß, dass du ein großes Herz hast und ich bin wirklich froh, dass es dir gut geht. Du hast es verdient.

Nach allem, was passiert ist, geht es mir auch besser. Ich bekomme gerade einen gesunden Abstand zwischen mich und das Chaos, dass zwischen uns gewesen ist. Und irgendwann spreche ich mit dir über alles, aber jetzt ist der falsche Zeitpunkt für mich.

Lukas"


Die Nachricht abzuschicken hatte sich wie der letzte Befreiungsschlag angefühlt, den es gebraucht hatte, bevor ich ganz im Reinen mit mir Pia hatte küssen können, ohne Störgeräusch und ohne Hintergedanken. Ich hatte mich endlich frei gefühlt, weil kein schlechtes Gewissen an mir genagt hatte. Frei und verzaubert, und ich mochte gern glauben, dass es die Magie war, die jedem Neuanfang zu eigen war. 

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