Kapitel 16: Haie (4)

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Lukas


Vier Wochen später- es war Mitte Dezember- fuhr ich wieder, mittlerweile zum vierten Mal innerhalb der letzten Monate- nach Berlin. Juan und Daniel hatten am Vorabend schon Witze darüber gemacht, dass ich die Bäume entlang der Bahnstrecke bestimmt schon beim Namen kennen würde und auch, wenn es ganz so krass dann doch noch nicht war, überwältigte mich unterwegs die Langeweile wieder und wieder. Ich hatte eigentlich keine Lust auf diesen erneuten Trip gehabt, aber nachdem ich beim letzten Versuch kein WG-Zimmer bekommen hatte, blieb mir keine Wahl als mich wieder auf den Weg zu machen. Ich hatte für die kommenden zwei Tage vier Besichtigungen ausgemacht und hoffte, einfach irgendwo einen trockenen und sauberen Platz zum Schlafen zu finden. Gern ohne Erstis, gern halbwegs dicht am Institut und gern mit einer Küche mit mehr als zwei Kochplatten. Aber das waren nach meiner verzweifelten Wohnungssuche in den letzten Wochen schon längst keine harten Kriterien mehr. Die Zeit drängte mittlerweile richtig und ich hoffte nur noch, irgendwie vor Weihnachten noch eine Zusage zu bekommen. Dabei gestaltete es sich oft schon als unendlich schwierig, überhaupt Antworten auf meine Anfragen zu bekommen. Ich seufzte und schob meine Hände tiefer in meine Pulloverärmel hinein. Es war richtig kalt geworden, richtig winterlich, und ich spürte unpassenderweise jetzt, wo ich in diesem ungemütlichen Zug saß, einen ersten Anflug von Weihnachtssehnsucht. Nach Spekulatius, Lichterketten und dem obligatorischen Kakao mit Kim und Felix, der auf den Familienausritt am Morgen des ersten Weihnachtstages folgte. Jetzt allerdings hatte ich statt einem Becher Kakao in der Hand meinen Laptop auf den Knien und versuchte, einen Artikel zu lesen, der von meiner neuen Arbeitsgruppe veröffentlicht worden war. Es war verdammt mühsam. Die Hälfte verstand ich nicht, weil ich die zitierte Hintergrundliteratur nicht kannte. Und Dinge, die ich glaubte zu verstehen, waren plötzlich anders gemeint, als ich angenommen hatte. Ich kam gerade in der Einleitung kaum zwei Sätze weit, bis ich wieder nachschlagen musste, was gemeint sein könnte und irgendwann wurden meine Augenlider über dieser frustrierenden Anstrengung so schwer, dass ich nachgab und sie einfach zufallen ließ. Die letzten Wochen waren nicht im klassischen Sinne anstrengend gewesen und trotzdem war ich erledigt. Loslassen war anstrengend. Ink, die Stadt, meine Freunde, meine Arbeit, die Nähe zu meiner Familie. Aber- bei all der Anstrengung, merkte ich auch, dass der Zeitpunkt stimmte. Das Juan sich schließlich deutschlandweit auf Jobsuche machte, war schlussendlich der letzte deutliche Fingerzeig, den ich noch gebraucht hatte, um das einzusehen. Ich hatte also in den letzten Wochen kaum gearbeitet und stattdessen einige Freunde noch einmal getroffen, die ich nach meinem Umzug so schnell nicht mehr wieder sehen würde. Gerade Juan, Daniel und ich klebten derzeit so sehr aneinander, dass wir damit Lena auf die Nerven gingen, die uns entfernt erzählte, sie wüsste gar nicht mehr genau, wer von uns nun ihr Freund sei. Außerdem hatte ich einen Nachmieter für meine Wohnung gesucht und gefunden- ein alleinstehender Herr mittleren Alters mit einem riesigen Labrador. Irgendwie war ich froh, dass mein Vermieter sich für ihn und nicht für das junge Pärchen entschieden hatte, dass es auch in die engere Auswahl geschafft hatte. Ich hätte einfach ein seltsames Gefühl gehabt, wenn Ink und ich von einem neuen Pärchen abgelöst würden, die ähnlich verliebt und enthusiastisch gewirkt hatten wie ich mich damals gefühlt hatte. So war es ein sauberer, besser verschmerzbarer Cut.



Pia

Es war fast halb sieben, als ich das Lehrbuch zuklappte und mein Handy aus der Schreibtischschublade holte, in das ich es beim Lernen verbannte. Niemand hatte geschrieben. Kim nicht, Paul nicht und auch sonst niemand. Vor meiner Zimmertür klapperte und donnerte es, während Jasja eilig aufräumte. Ich fragte mich, ob sie es noch schaffen würde den Staubsauer anzuwerfen, aber eigentlich war es mir auch egal. Eigentlich war ich für heute und für diese ganze Woche fertig mit der Welt. Ich ließ mein Handy wieder in der Schreibtischschublade versinken und starrte aus dem Fenster. Draußen war es längst dunkel, aber wirklich dunkel wurde es hier einfach nicht. Dazu war die Stadt zu lebendig und zu vollgestopft mit Menschen. Was ich meistens an Berlin mochte, zog mich heute nur runter. Eine Stadt vollgestopft mit Menschen, eine Wohnung vollgestopft mit Menschen, eine Uni vollgestopft mit Menschen- und ich war allein. Spätestens seit letztem Montag, seit diesem Testat, in dem ich mehr Punkte als die meisten meiner Freunde geholt hatte. Diese mündliche Prüfung in einer Kleingruppe hatte mir eindrucksvoll gezeigt, dass ich in ein Haifischbecken gesprungen und zwischendurch jegliche Vorsicht vergessen hatte. Ich war so dumm gewesen, beim Mittagessen danach offen zu sagen, dass ich bei zwei der Fragen einfach glücklich geraten hatte. Und Mina hatte, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, ihre Augenbrauen hochgezogen und ein spitzes „Und sowas bekommt mehr Punkte als du, Ole." fallenlassen. Deutlich hörbar und genau so gemeint, wie sie es ausgesprochen hatte. Seitdem nahmen die Anspielungen kein Ende. So dankbar wie sie meine Chemie-Notizen genommen hatten, so wenig hilfreich waren sie, als ich in Anatomie mit der Stoffmenge kämpfte.

„Tja, da muss sie lernen wie wir anderen halt auch." hatte Mina mit schlecht verborgener Schadenfreude halblaut gesagt, als der Dozent irgendwann aufgegeben und sich ein neues Opfer gesucht hatte, während ich mit hochrotem Gesicht die Tränen der Wut heruntergeschluckt hatte. Und gleichzeitig hatte ich Niklas Blick auf mir gespürt- und das hatte die Situation noch so unendlich unerträglicher gemacht.

„Pia?" Jasja klopfte beherzt gegen die Tür. „Bist du gleich fertig mit Lernen? Ich würde noch den Staubsauger anwerfen, wenn dich das nicht stört."

„Mache ruhig.", rief ich zurück und zog von meinem Schreibtischstuhl auf mein Bett um, wo ich mich zusammenrollte und mir die Decke über den Kopf zog. Weniger wegen des Staubsaugers als vielmehr wegen des übermächtigen Gefühls, gedemütigt worden zu sein, wieder die Dumme zu sein. Niklas und ich- das hatte sich gut angefühlt. Unkompliziert, aber nicht unverbindlich. Es hatte gekribbelt, aber es hatte mir nicht den Boden unter den Füßen genommen. Ich hatte mich sicher gefühlt und während er mir von seiner Prüfungsangst erzählt hatte, hatte ich irgendwann sogar von meiner Mutter gesprochen. Ich hatte gedacht, dass es gut lief und war kurz davor gewesen, Kim von ihm zu erzählen. Nach dem Drama um Viktor hatte ich einfach abwarten wollen, bis ich mir sicher war, dass die Sache keine Schnapsidee war. Und da war so vieles scheinbar gut gewesen. Wir hatten uns Freiheiten gelassen ließen und uns einfach kennengelernt- und ich war so überzeugt davon gewesen, dass er irgendetwas in mir sah, dass er wirklich mochte. Diesen Eindruck hatte er allerdings wenige Tage nach dem Testat des Grauens korrigiert. Auf einer WG-Party hatte er am Buffett gestanden und, bevor er gesehen hatte, dass ich direkt hinter ihm stand, dem Gastgeber verkündet, dass ich eine willkommene Ablenkung zu dem ganzen Stress und der Lernerei sei. Einfach, nicht zu anspruchsvoll, ganz nett und hübsch genug, um das Licht anzulassen. Ich hatte nicht angefangen zu heulen, als ich das gehört hatte. Ich hatte ihm vielmehr mein Bier über den Kopf gegossen. Ruhig, ohne ein Wort zu sagen, hatte ich die Flasche gehoben und einfach über ihm ausgekippt. Danach war ich, nicht minder wortlos, gegangen. Seitdem war ich offiziell nicht nur jemand, der seine Noten von der Glücksfee bekam, sondern schwer gestört. Und das konnte ich nach dem Auftritt niemandem verübeln.

„Pia!" Wieder klopfte Jasja gegen die Tür. „Kommst du gleich? Du wolltest noch spülen. Der erste Typ für Stellas Zimmer kommt gleich."

„Komme.", murmelte ich gerade laut genug, dass sie mich hören konnte und verkniff mir den Kommentar, dass ich das schon fast unfair fand. Nicht mir gegenüber, aber dem, der sich für das Zimmer interessierte und der ernsthaft den Eindruck bekommen könnte, unsere Küche sei ab und zu mal sauber. Auf den gleichen Trick war schließlich auch ich vor wenigen Monaten reingefallen. 

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