Kapitel 9: Blau (4)

69 11 2
                                    


Inga hing diese persönliche Niederlage ewig nach. So sehr wie sie nach diesem Zusammenbruch auf meinen Beinen auch darauf bedacht war, sich keine Wut oder Enttäuschung anmerken zu lassen, so wenig überzeugend freute sie sich auf den Master. Als sie die Zusage unserer Uni für den Master in Wirtschaftsrecht in der Hand hielt, sah sie eher aus, als wäre ihr verdammt übel. Von dem Elan, mit dem sie damals in den Bachelor gestartet war, war keine Spur zu sehen. Bei unserem Urlaub, den wir mit Daniel und seiner Freundin in den Dubrovnik verbrachten, verschwand sie abends regelmäßig lange vor Mitternacht im Bett. Als Daniel mich nach ein paar Tagen fragte, ob zwischen Inga und mir alles in Ordnung sei, war er so ehrlich beunruhigt, dass er darauf verzichtete, sie Pumuckl zu nennen. Überhaupt benutzte er schon nach zwei Tagen auch ihr gegenüber lieber ihren echten Vornamen, weil sie sich weder künstlich noch ehrlich darüber aufregte, wenn er sie mit ihrer Haarfarbe aufzog. Sie war einfach still. Begeisterung vorzutäuschen- etwa als wir die Stadtmauer entlanggingen und die offensichtliche Ähnlichkeit zu Königsmund bewunderten- schien ihr dabei das letzte bisschen Energie auszusaugen. So sehr wie sie Game of Thrones mochte und so sehr, wie sich deshalb ursprünglich auf unseren Trip gefreut hatte, so wenig war währenddessen davon zu spüren. Als wir am letzten Abend unsere Sachen zusammenpackten, war ich fast erleichtert darüber, dass es endlich vorbei war. Wir fuhren danach beide in die Heimat und während ich mich für zwei Wochen bei Sina und Julian breit machte, ritt und mit Felix zockte, war und blieb sie bei ihren Eltern. Mein Handy blieb sehr viel stiller als üblich- und ich selbst ließ es meistens über Tag unbeachtet neben meinem Bett liegen. Ich hatte fast das Gefühl, mich von ihrer Schwermütigkeit und ihrer Enttäuschung erholen zu müssen. Einmal kam sie zum Abendessen herüber und ich merkte, wie sie sich zusammenreißen musste, als das Thema kurz darauf zu sprechen kam, dass wir ja nun doch nicht nach Berlin umziehen würden. Sie sah aus, als würde sie Sina die Pest an den Hals wünschen, als die unbedacht anmerkte, dass sie sich Schlimmeres vorstellen konnte, als uns doch noch in der Nähe zu wissen und ich sah aus dem Augenwinkel, wie Julian Sina unter dem Tisch einen mahnenden Stups mit der Fußspitze verpasste. Danach wechselte er geschickt das Thema und ich atmete auf, als Inga dankbar darauf einging.



Am nächsten Tag suchte ich in der Sattelkammer ein dickes Lammfellpad, fand eins bei Rubinsteins Sachen und baute es ab, um damit Galinas mittlerweile unpassenden Sattel notdürftig aufzupolstern. Sie hatte nach meinem Auszug noch zwei Jahre als Lehrpferd für die Auszubildenden ihren Hafer verdient, aber seit einem Jahr war sie offiziell Renterin. Wenn ich zu Besuch war, ließ ich sie an der Longe joggen oder ging ausreiten. Mehr tat sie nicht mehr und entgegen meiner Befürchtungen störte sie sich daran kein bisschen. Ihr nach wie vor fehlender Schopf gab den Blick auf die zunehmende Anzahl an weißen Haaren an ihrem Kopf preis und ihr schon immer problematischer, langer Rücken hatte nicht nur Muskulatur eingebüßt, sondern wurde zumindest bei nasskaltem Wetter immer empfindlicher. Unverändert waren nur ihre Eselohren und die Hingabe, mit der sie jedes bisschen menschliche Haut abschleckte, dass sie erreichen konnte. Während ich das Pad unter ihren Sattel bastelte und mäßig zufrieden das Ergebnis begutachtete, kam Julian mit einem Kundenpferd in die Stallgasse. Der kräftige Wallach sah zufrieden aus, während Julian durchgeschwitzt und sichtlich erledigt war.

„Ist das vertretbar?", fragte ich, kaum dass Julian abgetrenst und den Wallach angebunden hatte und deutete auf Galinas Sattel. „So für wenn ich hier bin?"

Er warf einen flüchtigen Blick auf die Stute und nickte. „Geht schon, ja. Wir können ihn auch aufpolstern lassen, wenn der Sattler das nächste Mal da ist. Wenn du das willst."

„Wenn sich das lohnt.", übersetzte ich seine Aussage und schmunzelte. „Wahrscheinlich nicht. Super wäre es trotzdem."

„So sei es.", erwiderte er achselzuckend und war schon im Begriff sich wieder seinem Pferd zuzuwenden, als er innehielt. „Du gehst ausreiten?"

Wir ritten wenig später gemeinsam vom Hof. Julian hatte seinen eigenen Rentner gesattelt und Rubinstein bummelte mit gesenktem Kopf neben Galina her, während wir die Straße Richtung Wald entlangritten. Noch bevor Julian das Thema anschnitt, wusste ich, dass er sich Gedanken über den Vorabend und Inga machte und die Möglichkeit beim Schopf hatte greifen wollen, um nachzuhaken, ob alles in Ordnung sei. Inga, die sonst gern und oft bei mir übernachtete, wenn wir beide in der Heimat waren, war zwar über Nacht geblieben, an diesem Morgen aber noch wieder gefahren, bevor ich es aus dem Bett geschafft hatte. Wir hatten kaum das Tor zum Wald passiert, als er mich fragte, ob es mir und Inga gut ginge.

„Wieso nicht?", fragte ich zurück, weil ich ad hoc keine Antwort geben konnte. Soweit ich wusste, war zwischen uns alles in Ordnung.

„Sie sah traurig aus gestern.", gab er ungewohnt direkt zurück und gurtete nach, bevor wir auf den Reitweg abbogen.

„Die Sache mit dem Masterplatz in Berlin hängt ihr halt nach. Das kann man ihr doch nicht verdenken."

„Tue ich nicht." Julian hob die Augenbrauen, offensichtlich nicht minder verwundert über den scharfen Ton, den ich anschlug wie ich selbst. „Es war einfach sehr auffällig, Lukas."

„Weil sie es nicht lustig fand, dass Sina sich darüber gefreut hat, dass aus Berlin nichts wird?"

„Weil sie sonst viel mehr lacht und redet."

Geschlagen schwieg ich, weil ich dem nichts entgegenzusetzen hatte. Natürlich hatte er damit recht. Die Inga, die schweigend durch Dubrovnik geschlichen war und die aus meinem Bett verschwand, bevor ich richtig wach war, kannte ich genau so wenig wie er. Die Hilflosigkeit, in die sie mich mit ihrem Schweigen verbannte, war mir dafür umso bekannter. „Ich wollte nicht nach Berlin.", sagte ich schließlich langsam und Galina klappte eins ihrer langen Ohren zurück, als würde sie interessiert zuhören. „Ich bin nicht traurig, weil wir nicht gehen, aber ich hätte es für sie gemacht, weil sie damals für mich zurückgesteckt hat. Jetzt ist sie zerstört- und ich bin nur erleichtert. Ich weiß nicht, wie gut sich das verträgt." 


-----

Blaue Wolken über dem Paradies? Oder Wolken über dem blauen Paradies? Oder hat die Farbe mit der aktuellen Situation gar nichts zu tun? ;)

LieblingstagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt