Kapitel 21: Erkenntnisse

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Lukas


Ich packte gerade meinen Laptop und meine Unterlagen zusammen, als zwei Studenten aus meinem Seminar statt sich auf den Weg Richtung Tür zu machen, auf mich zukamen.

„Herr Feldmann?"

Ich brauchte, wie so oft, anderthalb Sekunden zu lange, bis ich realisierte, dass ich damit gemeint war. Egal, wie viel Zeit auch seit der Adoption verstrichen war, so richtig war der Name nie mit mir verwachsen. Ich legte meinen Laptop plus Ladekabel wieder auf dem Tisch ab und nickte verhalten. Meine Begeisterung für meine Studenten in diesem Seminar war gemischt und die meisten Fragen, die ich hörte, hatten weniger mit Interesse am Thema zu tun als mit der absurden Angst, irgendwie durch die Hausarbeit zu fallen, die sie am Ende schreiben sollten. Mein bisheriges Highlight war gewesen, als sich ein Student darüber beklagt hatte, dass er nirgendwo auf meinen Folien die von mir gewünschte Randbreite gefunden hatte. Ob er durchfallen würde, wenn er seinen Rand zu breit oder zu schmal wählen würde. Oder wenn er eine falsche Schriftart benutzte. Ich war so perplex gewesen, dass ich gelacht hatte- und danach hatte ich doch eine Formatvorlage für alle hochgeladen, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen. Als ob ich darüber gestolpert wäre, wenn jemand seine Hausarbeit in Arial und nicht in Times New Roman geschrieben hätte. Bei Comic Sans hätte ich mir wahrscheinlich einen Kommentar nicht verkniffen, aber selbst dafür hätte ich niemanden durchfallen lassen. Ich machte mir, anders als meine Studenten offensichtlich, mehr Sorgen um den Inhalt der Arbeiten als um deren Gestaltung. „Wie kann ich helfen?"

„Wir", setzte der kleinere der beiden an, der mir bis zu dem Zeitpunkt in erster Linie wegen seiner beharrlichen Schweigsamkeit aufgefallen war. „Wir haben uns gefragt, ob man prinzipiell Abschlussarbeiten bei Ihnen schreiben kann. Und was Sie für Themen vergeben."

Ich rief mir die Liste mit Themen, die auf unserer Website ausgeschrieben waren, ins Gedächtnis und erzählte- so gut ich konnte- zu welchen Themen wir forschten und welche meiner Kollegen Betreuungskapazitäten frei hatten.

„Und bei Ihnen?", hakte der größere, Joscha, dessen Namen mir wenigstens im Gedächtnis geblieben war, nach.

„Bei mir?", wiederholte ich ungläubig und schob die Hände in die Hosentaschen. „Wieso bei mir?"

„Weil wir doch im Seminar ein Projekt erarbeiten. Max"- Joscha deutete auf seinen Kommilitonen und verriet mir dankenswerterweise dabei dessen Namen- „und ich haben letzte Woche nach der Sitzung mit der Programmierarbeit angefangen. Und wir hatten eine Idee, die den Rahmen vom Seminar sprengt. Außerdem bräuchten wir Hilfe und...."

Die beiden erzählten fast eine Viertelstunde von ihrer Idee und der Forschungsfrage, die sie untersuchen wollten. Ihre Frage passte überhaupt nicht zu der Programmieraufgabe, die sie für das Seminar machen sollten, aber ihre zugegebenermaßen unerwartete Begeisterung war so ansteckend, dass ich mich nach dem Mittagessen mit beiden hinsetzte und überlegte, was man sinnvoll angucken und zu zwei Abschlussarbeiten verarbeiten könnte. Am Ende versprach ich beiden, den Vorschlag gemeinsam mit meinem Chef durchzusprechen und zu schauen, ob einer der erfahreneren Doktoranden ihre Arbeiten betreuen würde. Ich hielt das für einen guten Vorschlag, aber beide guckten ziemlich unglücklich, bis Max damit herausrückte, dass sie gerne bei mir schreiben wollten. Weil sie mein Seminar mochten und sie glaubten, ich könnte ihnen gut helfen. Das indirekte Kompliment brauchte, um bei mir anzukommen und selbst dann war ich so überrascht, dass ich nur versprach, darüber mit meinem Chef zu sprechen. Ich brauchte, auch nachdem die beiden das Büro längst verlassen hatten, noch ein paar Minuten, bis zu mir durchdrang, dass mein Seminar scheinbar kein totaler Flop war. Und dann verstand ich, dass ich es scheinbar geschafft hatte, zwei Teilnehmer so sehr für das Thema zu begeistern, dass sie sich damit weiter beschäftigen wollten. Das war unerwartet- unerwartet und schön und fast ein bisschen euphorisierend.

„Oh lala." Meine Kollegin, die mir gegenübersaß, sah mich an ihrem Bildschirm vorbei an und grinste breit. „Der Kollege mit dem todernsten Blick kann lächeln. Dein Seminar kommt gut an, was?"

„Quatsch.", sagte ich reflexartig und lehnte mich auf meinem Schreibtischstuhl zurück.

„Oh doch.", erwiderte sie und schmunzelte. „Und das darfst du auch mal zugeben, Lukas."

„Vielleicht." Ich schüttelte, immer noch ungläubig, den Kopf und sah hoch an die Decke. Scheinbar lief immerhin das Seminar. Nachdem ich mit meiner Diss immer noch beharrlich auf der Stelle trat, war die Erleichterung darüber, dass ich wenigstens diesen einen Teil meines Jobs hinbekam, fast physisch fühlbar.

„Genieße es, solange du kannst."

„Solange ich kann?"

„Oh ja. Warte ab, bis die beiden hier ständig reingeschneit kommen und deine Hilfe brauchen. Und komme gar nicht erst auf die Idee, dass auf irgendwen von uns abzuwälzen. Das kommt gar nicht in Frage." Mit einem schadenfrohen Glucksen verschwand meine Kollegin wieder hinter ihrem Bildschirm und ich tat so, als würde auch ich die Arbeit wieder aufnehmen. Tatsächlich genoss ich einfach noch eine Stunde lang beim Durchgehen meiner ungelesenen E-Mails das Gefühl, dass endlich mal etwas funktioniere, bevor ich früh Feierabend machte und bei strahlendem Sonnenschein mit dem Rad nach Hause fuhr.

Ich hatte mich gerade mit einer riesigen Portion Spaghetti mit Pesto und Parmesan am Küchentisch niedergelassen, als das Display meines Handys aufleuchtete.

„Hat sich jetzt jemand über dein Seminar beschwert oder nicht? Es ist Freitag, falls du es vergessen hast. Ich warte auf die Zusage."

Pia. Ich kaute nachdenklich, während ich ihre Nachricht ein zweites Mal las. Ihre WG-Party stieg in wenigen Stunden und ich hatte bisher weder zu- noch abgesagt. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, hinzugehen. Zum einen, weil die Arbeit dauerhaft am halbleeren Akku zog. Zum anderen, weil die schlaflosen Nächte der letzten Wochen nicht gerade zu Partystimmung beitrugen. Ich konnte hundertmal erleichtert darüber sein, dass Inga entlassen worden war- mir ging nachts nach wie vor die Frage durch den Kopf, wie groß mein Anteil daran war, dass die Situation so eskaliert war. Und dann, und das gestand ich mir ungern ein, war Pia selbst ein Grund. Pia, die am letzten Sonntag so schockiert auf meinen Unterarm gestarrt hätte, als hätte ich ihr gestanden, Mitglied in einer Sekte zu sein. Sie hatte nichts gesagt. Weder beim Klettern noch beim Essen danach und sie hatte sich sichtlich angestrengt, mir ins Gesicht statt auf den Arm zu schauen. Wir hatten beim Essen über alles Mögliche geredet, aber ich hatte gespürt, dass ihre Gedanken woanders waren. Vermutlich unter dem Stoff meines Pulloverärmels. Die Stimmung war, obwohl oberflächlich gut, angespannt gewesen. Wir beide hatten nicht ausgesprochen, was uns im Kopf herumgegangen war. Normalerweise hätte ich sie vielleicht gerettet. Normalerweise hätte ich, vielleicht zumindest, ein oder zwei Sätze zu dem Thema verloren. Normalerweise hätte ich klargemacht, dass dieser Teil meiner Vergangenheit abgeschlossen war. Aber diese Entgeisterung auf ihrem Gesicht hatte mich trotzig gemacht- und mich enttäuscht. Irgendwie, und es fiel mir schwer, das vor mir selbst zuzugeben, hatte ich von ihr mehr erwartet. Weniger Angst und mehr Verständnis. Es hatte an dem Gefühl gekratzt, dass wir einander verstanden. Vielleicht hatte es insgesamt an meinem Bild von Pia gekratzt. An diesem quasi uneingeschränkt positiven Bild von ihr. Ich schob mein Handy zur Seite und steckte mir eine große Gabel Spaghetti in den Mund. Eigentlich wollte ich nicht hin. Eigentlich hätte ich ihr absagen sollen. Aber etwas hielt mich zurück. Vielleicht war es die Tatsache, dass Pia in den letzten Wochen fast schon eine Freundin geworden war. Vielleicht war es die Tatsache, dass sich nicht nur niemand über mein Seminar beschwert hatte, sondern ich scheinbar einen guten Job machte. Vielleicht lag es auch daran, dass das Bild von Pia in meinem Kopf nicht nur insgesamt ziemlich positiv war, sondern ein Gefühl auslöste, dass ich fast vergessen hatte. Und so ungern ich es mir auch eingestand- genau deswegen hatte mich ihr entsetztes Starren überhaupt getroffen und sprachlos gemacht. Abwesend aß ich meinen Teller leer, räumte das Geschirr in die Spülmaschine und starrte dann ratlos auf die Nachricht von ihr, bis ich mir ein Herz fasste und zusagte. Irgendwie- und das fühlte sich beunruhigender an als ihr entgeisterter Blick- wollte ich sie einfach sehen. 


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So so. Er will sie sehen.  Und ihr so?

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