Kapitel 8: Das mit den Weisheiten und den Abenteuern (3)

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Ich fühlte mich wie sediert, während meine Stirn auf Ingas Schulter ruhte, wir im Schneidersitz auf dem Bett voreinander saßen und sie mir mit den Fingerspitzen Muster auf meinen Rücken malte. Wir hatten beide geweint und ich war mir sicher, dass nicht nur mein Kopf, mein Bewusstsein, mein Ich oder was es auch war, sich wund anfühlte. Das Pflaster war ab und die Haut darunter abnormal empfindlich. Trotzdem war die Panik weg und die Luft zwischen ihr und mir klar.

„Seit wann weißt du es?"

„Schon ziemlich lange." Sie verstärkte den Druck ihrer Finger, die immer noch über den Stoff meines Oberteils strichen. „Ich habe das geahnt, seit du vor zwei Jahren mit blutendem Arm neben mir gesessen hast. Und als wir dann letztes Jahr Schwimmen hatten..." Sie machte eine kurze Pause. „Jeder hat es gesehen, Lukas. Alle wissen es. Es redet nur keiner darüber. Alle haben dich gern und keiner..." Sie machte nochmal eine Pause und dieses Mal hielten auch ihre Finger in der Bewegung inne. „Niemand versteht es, aber keiner würde es wagen, dir deswegen dumm zu kommen."

Schock und Erleichterung blieben nach ihren Worten gleichermaßen aus, weil mein Körper sich schlicht nicht mehr hochfahren konnte. „Mir ist das so peinlich." Bei den Worten drückte ich mein Gesicht fester gegen ihre Schulter und sie atmete leise aus, bevor sie ihren Kopf zur Seite drehte und mir einen Kuss auf die Haare gab.

„Nicht vor mir, okay? Wenn du sagst, du hast das im Griff, dann..." Sie küsste mich nochmal. „Dann komme ich damit klar, ja? Mache dir keinen Stress meinetwegen."

Ich nickte gegen ihre Schulter und war versucht zu wiederholen, was ich ihr zuvor schon erzählt hatte. Das ausgerechnet der Aussetzer, auf dessen Folgen sie sie einen Blick erhascht hatte, der letzte gewesen war. Das ich es wirklich im Griff hatte und die einzige Rolle, die es in meinem Leben noch spielte, die langsam verblassenden Narben waren. Aber es war alles gesagt. Sie wusste alles. Von wie es angefangen hatte, über den Klinikaufenthalt bis hin zu dem Versteckspiel, das ich seit Ewigkeiten gegen die Welt spielte. „Du kannst immer noch weglaufen, weißt du?", sagte ich und versuchte, es nach einem Scherz klingen zu lassen. „Wenn dir dieser Psychiatrie-Kram zu krass ist, ich würde das schon verstehen."

Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit dem stechenden Schmerz, der einen Sekundenbruchteil später von meinem Magen ausging. Keuchend zuckte ich zurück, meine Hand zuckte zu meinem Bauch und ich und starrte sie ungläubig an. Ihre hellbraunen Augen funkelten in der Dunkelheit zornig zurück. Sie hatte mir eiskalt, wenig scherzhaft und ohne Vorwarnung ins Zwerchfell geboxt.

„Du bist ein Dummkopf, Sachsenberg!", sagte sie und es schwang eine unverhohlene Drohung in ihrer Stimme mit. „Du reißt dich jetzt zusammen und hörst auf, mir zu erzählen, was gut für mich ist und was zu krass für mich ist und was du alles verstehen könntest. Ich entscheide, was ich vertrage! Wenn du mich nicht verträgst, ist das deine Sache, aber ich habe kein Problem mit dir, deinen toten Eltern oder deinen Narben. Wenn du willst, bringe ich mit dir Blumen zum Friedhof und stelle mich dem Grabstein vor. Oder ich begleite dich zum Lasern oder zur Hauttransplantation- was lächerlich wäre, weil es lange nicht so heftig aussieht, wie du selbst glaubst. Ich..."

„Ink..", versuchte ich sie zu unterbrechen, aber sie hob die Hand und ich verstummte sofort, bevor sie mich nochmal boxen konnte.

„Du entscheidest nicht für mich, was ich aushalte. Das würde dir nicht gut bekommen. Verstanden?" Aufgebracht biss sie sich auf ihre Unterlippe, als könnte sie nur auf diese Weise zurückhalten, was ihr noch alles auf der Zunge lag.

„Verstanden.", gab ich zurück und rieb mir noch immer die Stelle zwischen meinen Rippen. „Ich will nur nicht, dass..."

„Ja?" Sie zog ihre Augenbrauen hoch und verschränkte die Arme demonstrativ vor der Brust.

„...das du am Ende irgendwie da mit reingezogen wirst. Wenn sie doch anfangen zu lästern oder..."

Ink schnaubte so wütend, dass ich meinen Satz unterbrach. „Niemand lästert über dich, Lukas. Hast du mir eben zugehört? Alle mögen dich. Du bist witzig, du bist nicht dumm und du bist hilfsbereit. Eventuell bist du auch nicht ganz hässlich, das bringt dir Zusatzpunkte bei ein paar Mädels, die ich wirklich nicht mehr mag. Niemand wird über dich lästern- und wenn sie es versuchen sollten, dann lästere ich zurück. Und das will keiner."

Damit hatte sie Recht. Normal gestrickte Menschen machten sich Inga nicht freiwillig zum Feind. Dazu war sie zu beliebt, ihre Zunge zu scharf und ihr Wissen über die kleinen und großen Dramen, die sich in der Schule ereigneten, zu groß.

„Wenn sie also anfangen zu reden, dann sollten sie mehr Angst vor mir haben als du um mich. Nachricht angekommen?"

Ich lächelte matt und nickte. „Denke schon." Immer noch vorsichtig rutschte ich wieder näher an sie heran und hielt ihr so lange auffordernd meine Hand hin, bis sie ihre verschränkten Arme löste und ihre warmen Finger in meine sinken ließ. „Du hast recherchiert.", sagte ich dann leise. „Wegen dem Lasern und so."

„Klar." Sie strich sich mit der freien Hand die Haare zurück und bedachte mich mit einem betont abgeklärten Schulterzucken. „Ich laufe doch nicht blind los. Wenn ich verspreche, dass ich etwas aushalte, dann überlege ich mir vorher, was ich da zusage."

„Und deine Eltern?"

Sie schmunzelte, griff mir in den Nacken und zog mich zu sich heran, bis meine Stirn gegen ihre stieß. „Meine Eltern sind meine Eltern. Ich sehe nicht, dass du dir um die Gedanken machen musst. Es sei denn, du möchtest mit ihnen statt mit mir Zusammensein."

„Nicht unbedingt.", erwiderte ich mit einem angedeuteten Grinsen, bevor ich sie küsste. „Das möchte ich nur mit dir machen.", wisperte ich zwischen zwei Küssen, die sich anders anfühlten als noch Stunden zuvor. Vertrauter, wacher, näher, intimer. Ich hatte dieses Wort bis zu diesem Moment, in dem ich mein Inneres für sie nach außen gekehrt hatte, nie wirklich begriffen, nie wirklich gespürt. Jetzt, während jeder Kuss mir versprach, dass es okay war, dass ich okay war, hatte es Bedeutung. Diesen Augenblick des Pflasterabziehens hätte ich mit niemand anderem außer mit ihr teilen wollen. Er gehörte ihr und mir. Als ich spürte, wie ihre Finger unter den Saum meines Ärmels krabbelten und ihn sachte nach oben schoben, versenkte ich meinen Kopf in diesem Gefühl und ließ sie gewähren.

„Wenn ich das hier machen darf", setzte sie an, während ihre Finger Linien auf meiner Haut nachmalten. „kriege ich dann endlich mein Freibad-Date mit dir? Darauf zu verzichten ist nämlich etwas, womit ich nicht ewig klarkomme und ich grabe schon seit Jahren an dir rum, nur um das endlich zu bekommen." Die Leichtigkeit in ihrer Stimme ließ mich nicken.

„Bekommst du, Ink." Ich hätte ihr in dem Moment die Welt versprochen und die Sache mit dem Freibad schien dagegen ein sehr, sehr kleines Zugeständnis zu sein.

„Du lädst mich ein, habe ich gehört. Als Geste der Entschädigung." Sie löste ihre Hände und ihren Blick von meinen Armen und sah mich erwartungsvoll an, während ihre Mundwinkel amüsiert zuckten.

„Mache ich, Ink."


Und das tat ich. Am ersten richtig warmen Tag des Jahres packte ich meine Schwimmsachen zusammen und fuhr mit ihr ins Freibad, aß mit ihr Melone und legte mich mit ihr in die Sonne. Sie setzte sich eine Sonnenbrille auf, breitete ihre Haare auf mir aus, parkte ihren Kopf auf meiner Brust und war so offensichtlich mit uns beiden und der Welt zufrieden, dass auch ich der Überzeugung verfiel, nichts und niemand könne uns je etwas anhaben. 

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