Sie nahm mir die Frage, ob man das mit uns wissen durfte, noch in dem Moment ab, als wir in unseren Jacken an die frische Luft traten. Sie verhakte ihre Finger mit meinen und während um uns herum Wunderkerzen und Raketen angezündet wurden, küssten wir uns. Wieder und wieder und wieder. Ich fühlte mich nur noch benommen und fragte mich unterdessen mehr als einmal, ob ich gerade einen verdammt realistischen Traum träumte. Einen, in dem ich die abgebrannten Wunderkerzen genauso roch wie den Kokosgeruch von Ingas Shampoo.
„Na? Hast du ihn dir klar gemacht, Ink?", fragte Alex schließlich neben uns und sie schmiegte sich so selbstverständlich an meine Seite, bevor sie antwortete, das ich mich fragte, wie lange sie schon über diesen Moment nachgedacht hatte.
„Habe ich gut gemacht, oder?", gab sie zurück und schlug in Alex ausgestreckte Hand ein und ihre Augen leuchteten dabei übermütig. Der ganze Rest der halben Stufe warf uns immer wieder schlecht verborgene Blicke zu und schließlich kam auch Ariana mit breitem Grinsen auf uns zu.
„Jetzt doch endlich mal?" Sie fiel erst Inga und dann mir um den Hals und wisperte mir ein „Ihr seid so süß! Zum Glück hast du es endlich gerafft" ins Ohr. Von der Aufregung oder vielleicht auch der Kälte waren ihre Wangen ganz rot.
„Endlich gerafft?", fragte ich dumpf und hatte ein bisschen das Gefühl, nur noch so halb in meinem Körper zu stecken. Meine Knie waren immer noch weich und zwischen meinen Rippen passierte definitiv irgendwas, dass mir flau und schwindelig werden ließ. Ansonsten spürte ich nur noch meine Hand, die Ingas Finger festhielt. Sonst war ich taub und weggesprengt.
Ariana tätschelte mir fast mitleidig die Schulter. „Ja, Lukas, endlich."
„Dir Bowle zu geben und dann über dich herzufallen war der Notallplan.", flüsterte Inga mir ins Ohr und drückte mir einen Kuss auf die Wange und mein ganzes Gesicht wurde von der Stelle ausgehend warm. „Sonst hätte ich aufgegeben. So nach einem guten Jahr oder so."
„Aber Nils...", flüsterte ich zurück, während Ariana und Alex sich wieder dem langsam abflauenden Feuerwerk zuwandten.
„Wer ist Nils?" Sie küsste mich nochmal und mir wurde endgültig schwindelig. Ihre Nasenspitze an meiner fühlt sich nach Minuten an der frischen Luft kalt an. „Vergiss Nils. Ich wollte die ganze Zeit dich und deinen Ponyhof. Nur ohne die Ponys."
„Die Ponys und ich sind ein Paket.", murmelte ich und musste aber gleichzeitig grinsen, weil meine alkoholisierten Nervenzellen so langsam weiterleiteten, dass sie mich vielleicht wirklich mochte.
Ich vermied den Blick zur Uhr sehr bewusst, während ich Inga beim Aufräumen half. Ich wollte nicht nach Hause und war längst so viel zu spät dran, dass ich nicht wusste, ob ich mich noch durch die Wohnungstür trauen sollte. Außerdem war ich nach betrunken und mein Kopf gleichzeitig schwer und voller Wattebäusche, die zunehmend vehement gegen meine Schläfen pochten. Hätte mein Herz nicht jedes Mal, wenn Inga mich berührte oder küsste mein Blut auf eine abwegige, adrenalinsteigernde Achterbahnfahrt geschickt, dann wäre ich im Stehen eingeschlafen. Stattdessen kletterte ich für sie auf einen Stuhl und schob die gespülte Suppenschüssel in das oberste Fach eines Hängeschranks.
„Fertig?", fragte ich und sie nickte, bevor sie gähnend neben den Stuhl trat und ihn festhielt, während ich herunterkletterte.
„Total fertig.", antwortete sie leise und so rot wie ihre Augen waren, war ich mir sicher, dass sie genau wie ich gegen zuklappende Augenlider kämpfte.
„Ich hau dann auch ab.", erwiderte ich und stupste mit meiner Fingerspitze gegen ihre Nase, was vollkommen verrückt war. Vor ein paar Stunden noch war das undenkbar gewesen und so natürlich wie es sich auch plötzlich anfühlen mochte, so neu und ungewohnt war es gleichzeitig. Die Watte in meinem Kopf machte es nicht weniger wahnsinnig.
„Hm.", murmelte sie und ließ ihre Stirn gegen meine Brust fallen. „Du kriegst bestimmt Stress, oder?"
„Weil?", fragte ich unnötigerweise und schlang meine Arme ein weiteres, ungezähltes Mal an diesem Abend um sie. Es fühlte sich viel zu gut an, um es zu lassen.
„Weil es halb fünf ist."
„Könnte schon sein." Die Watte und ihr Kopf an meinem Schlüsselbein dämpften die Nervosität, die sich normalerweise in Erwartung des Donnerwetters eingestellt hätte. Was auch immer mich zuhause erwartete, hatte sich schon so unendlich bezahlt gemacht.
„Vielleicht wird es besser, wenn du liebe Grüße von mir ausrichtest.", nuschelte sie in meinen Pulli. „Du kannst ja sagen, dass ich dich abgefüllt habe und alles meine Schuld ist."
„Du willst mich schon noch mal auf dem Ponyhof besuchen, oder?"
„Unter Umständen." Sie holte Luft, hob den Kopf und blinzelte mich an. Sie war richtig fertig. „Ich könnte..." Sie brach ab und wandte den Kopf Richtung Küchenfenster, als ein Auto auf die Einfahrt abbog. „Meine Eltern.", flüsterte sie und ich ließ sie eilig los, weil ich keine Ahnung hatte, ob ich schnellstens fliehen sollte.
„Soll ich abhauen?", fragte ich atemlos und mit gespitzten Ohren, während draußen eine Autotür geöffnet wurde und sie nickte.
„Ist besser.", sagte sie eilig und mit einem Mal ziemlich wach. Bevor ich reagieren konnte, war sie in den Flur gestürmt und kam mit meiner Jacke wieder. „Aus der Terassentür und durch den Garten.", flüsterte sie und schob mich Richtung Wohnzimmer. „Ich habe versprochen, dass alle um drei weg sind."
Im Laufen zog ich mir die Jacke über, küsste sie flüchtig an der Tür und tauchte ab in die schützende Dunkelheit des Gartens. Ich hatte noch keine drei Schritte gemacht, als ich gedämpft das Klingeln an der Haustür hörte. Das waren nicht ihre Eltern. Die Erkenntnis fuhr mir in einem Sekundenbruchteil tief in die Knochen, löste die Watte in meinem Hirn auf und ließ mich zur Salzsäure erstarren, als Inga die Tür öffnete und ich eine mir sehr vertraute Stimme fragen hörte, wo ich wäre. Fuck. Ich war tot. Ich war definitiv tot.
----
Habt einen schönen Samstagabend :)
Was meint ihr? Wer sammelt den weggesprengten, überwältigen Lukas mitten in der Nacht ein?
DU LIEST GERADE
Lieblingstag
Roman pour AdolescentsInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...