An diesem Abend würgte ich ein halbes Brot herunter und kippte die Hälfte meines Früchtetees in die Spüle. Solange, wie ich auf Lugars Rücken gesessen hatte, hatte ich mich zusammenreißen können und mir war auch nichts anderes übrig geblieben. Es war meine erste Dressurstunde ohne Hilfszügel gewesen und ich war mir wie der letzte Idiot vorgekommen, als Lugar bei jedem Übergang seinen Kopf hochgezogen und ich nur mit Julians Hilfe meine Hände und Lugars Kopf wieder auf Kurs bekommen hatte. Das angewachsene Frustrationslevel passte jedenfalls zu der Mathearbeit, die immer noch in meiner Schultasche steckte. „Gute Nacht.", sagte ich, stellte mein Geschirr in die Spülmaschine und verschwand schneller zum Duschen im Bad, als Sina, die offensichtlich etwas sagen wollte, ihren Kaffee herunterschlucken konnte. Als ich aus dem Bad kam, brachte sie gerade Felix ins Bett und ich schlich an seiner angelehnten Zimmertür vorbei in mein Zimmer, knipste das Licht aus und verschwand mit einem einzigen Hechtsprung in meinem Bett. Geschafft. Mein Kopf hatte noch nicht das Kissen berührt, als ich den Entschluss fasste, am nächsten Tag nicht zur Schule zu gehen. Ich wusste noch nicht, wie ich es anstellen würde und wo ich den Tag verbringen würde, aber sicher nicht in der Schule. Abgesehen davon, dass ich meinen Mitschülern den Tag gönnen wollte, um in aller Ruhe und auf jeden Fall in meiner Abwesenheit zu diskutieren, was jetzt eigentlich mit mir los war, würde ich ein paar Stunden brauchen, um Julians Unterschrift zu üben. Unter meine erste Mathearbeit hatte er undefinierbare Kringel und Schlenker gemalt und ich hatte schon da gedacht, dass ich nicht in die Situation kommen wollte, diese Hieroglyphen nachmalen zu müssen. Pech gehabt. Besser ägyptische Wandmalerei üben als Koffer packen. Als ich das Klopfen an der Tür hörte, zog ich mir reflexartig die Decke bis zur Nasenspitze, machte die Augen zu und atmete betont tief und langsam. Es dauerte fünf Sekunden, dann schwang die Tür auf und ich hörte an den leichten, leisen Schritten, dass Sina das Zimmer betreten hatte.
„Lukas?", sagte sie fragend, aber ich rührte mich nicht und atmete weiter stumm in mein Kissen.
Sie seufzte und als sie neben meinem Bett in die Knie ging, ahnte ich, dass ich in Schwierigkeiten steckte.
„Es ist gerade neun, Lukas. Erzähle mir nicht, dass du schläfst.", sagte sie und ich spürte, wie die Matratze leicht einsank, als sie ihre Ellbogen darauf abstützte. Ich schlief demonstrativ weiter und hörte, wie sie schließlich leise schnaubend ausatmete.
„Lukas, dein Klassenlehrer hat heute Nachmittag angerufen."
Innerlich gefror ich zu einem Gletscherkern, während ich weiterhin meine Augen fest zusammenpresste. So schlimm, dass meine Versetzung in Gefahr war, war es doch eigentlich nicht. Oder doch?
„Du hättest das doch erzählen können.", sagte sie leise und ich spürte, wie mir kalt wurde. Kam jetzt die Abrechnung dafür, dass ich meine Mathearbeit nicht sofort ausgepackt hatte? Sie konnte unmöglich wissen, dass ich gerade erst darüber nachgedacht hatte, Julians Unterschrift zu fälschen. Kurz verspürte ich den Drang, doch meinen Kopf zu heben und ihr zu antworten, aber die Macht der Gewohnheit machte es unmöglich. „Du weißt, wir hatten mit der Schule darüber geredet, ob man deiner Klasse von Anfang an erzählt, dass du nicht bei deinen richtigen Eltern leben kannst und vielleicht wäre das wirklich der bessere Weg gewesen. Du warst so dagegen...", schob sie seufzend hinterher. Weil es nichts geändert hatte, dachte ich stumm, während sich die Hoffnung in mir regte, dass mein Mathelehrer und mein Klassenlehrer keinen zu regelmäßigen Austausch pflegten.
„Lukas...", sagte sie nochmal in einem Ton, der eine gut weggeschlossene, warme Erinnerung an eine Frau mit dunklen, braunen Locken freisetzte. Als ich ihre Hand an meiner Schulter spürte, die zaghaft über den Stoff meines T-Shirts strich, war ich für einen Moment nicht unter der Dachschräge. Für einen Moment war ich in einem alten Bauernhaus durch dessen geöffnete Fenster man keine Pferde, sondern Kühe hörte. Und die Frau, die an meinem Bett saß und einer sehr viel jüngeren Version von mir mit der Hand durch die Haare strich, während sie Karlsson vom Dach vorlas, war meine Mutter. Ich biss meine Zähne fest aufeinander, bis mein Kiefer verkrampfte und hielt die Luft an, aber die Tränen, die ich den ganzen Tag weggeblinzelt hatte, bahnten sich ihren Weg durch meine geschlossenen Augenlieder und tropften leise auf den Stoff des Bettlakens. Erstickt schluchzte ich in mein Kissen und versuchte, diese nach wie vor fremde Hand an meiner Schulter und das Gefühl, dass ihre Stimme für einen Moment in mir ausgelöst hatte, irgendwie wieder auseinander zu bekommen. Sie hatte ungefähr so viel mit meiner Mutter gemeinsam wie ich mit Kim- nichts. Diese Vertrautheit war falsch. Sie war nicht meine Mutter. Sie wollte das nicht sein und ich wollte nicht, dass sie es sein wollte. Nur deswegen kamen wir miteinander aus. Der Impuls, mich gegen ihre Berührung zu lehnen war einfach falsch. Zweimal hörte ich, wie sie zum Sprechen ansetzte, dann aber statt etwas zu sagen ihre Hand von meiner Schulter nahm und stattdessen über meine kurzen Haare strich, während ich weiterweinte, als habe jemand eine Staumauer eingerissen. Ich konnte einfach nicht aufhören und die Hand in meinen Haaren machte es noch unmöglicher. In diesem Moment schämte ich mich beinahe zu Tode dafür, so hilflos und überwältigt vor Sina zu weinen. Ich wollte keine Probleme machen. Man hatte mir eingeschärft, meine Chance bloß nicht wegzuwerfen und es war der erste Moment, in dem ich spürte, wie die Last dieser Aussage mich niederdrückte. Wie ein Knie im Nacken. Gleichzeitig spürte ich den kalten Schweiß auf meinem Nacken und auf meiner Stirn und das Zittern meiner Knie.
„Es tut mir Leid.", war das Erste, was ich schließlich herausbrachte und es war gleichzeitig das Letzte, was ich in den nächsten Minuten sagen konnte.
„Was sollte dir denn leidtun, hm?" Ich spürte, wie Sina vom Boden auf meine Bettkante wechselte und wie sie statt eine Antwort zu erwarten einfach abwartete, bis ich wieder Luft bekam.
„Ich habe Mathe wieder.", flüsterte ich schließlich mit brüchiger Stimme, während das Geständnis meinen Herzschlag noch höher trieb.
„Und?"
„Vier minus." Sofort schwammen meine Augen wieder in Tränen.
„Das ist doch wirklich nicht wichtig, Lukas.", seufzte sie und ich hörte ein erleichtertes Aufatmen ihrerseits. „Vier ist bestanden, bestanden ist gut und so weiter. Den Spruch kennst du." Sie kraulte weiter meine Haare. „Und wenn es eine Fünf wäre, wäre es auch kein Beinbruch. Wir kriegen das mit Mathe schon noch in den Griff. Ist das Ding im Rucksack?"
Ich nickte stumm und als sie ihre Hand zurückzog und aufstand, fühlte ich mich gleichzeitig leer, erschöpft und erleichtert. Die Wärme ihrer Berührung fehlte, auch als sie sich mit dem Blätterwust in der Hand wieder auf meiner Bettkante niederließ. Schweigend blätterte sie sich vom Anfang zum Ende durch und als sie bei der Bewertung angekommen war und den Spruch las, mit dem mein Mathelehrer meine Leistung versehen hatte, lachte sie trocken.
„Arschloch. Er weiß, warum du eine Menge Stoff verpasst hast. Der Spruch ist einfach unangemessen. Soll ich zum Elternsprechtag gehen und...?"
Ich schüttelte heftig den Kopf, weil die Vorstellung davon, wie Sina meinen Mathelehrer auseinandernahm mir ungefähr so große Bauchschmerzen bereitete wie die Arbeit selbst. Ich war mir ziemlich sicher, dass man danach im Lehrerzimmer noch mehr über mich reden würde, als man es vermutlich jetzt schon tat. Sie konnte unangenehm werden- richtig unangenehm. Das hatte ich in den letzten Monaten oft genug beobachtet.
„Würde ich aber gern.", murmelte sie düster und legte die Zettel auf dem Boden ab.
„Bitte nicht.", erwiderte ich und tat den ersten tiefen Atemzug seit einer kleinen Ewigkeit. Mein T-Shirt klebte nassgeschwitzt an meinem Rücken und meine Knie, die aufgehört hatten zu zittern, fühlten sich an, als sollte ich nicht versuchen aufzustehen und obwohl ich hinter meiner Stirn ein unangenehmes Pochen und Stechen spürte, fuhr nicht nur mein Herzschlag langsam runter. Langsam drehte ich mich von der Seite auf den Rücken, setzte mich langsam auf und sah Sina zum ersten Mal an, seit sie sich neben mich gesetzt hatte. „Ich will keinen Stress. Kannst du das Ding einfach unterschreiben und..." Ich wusste nicht, was noch.
„Mache ich morgen früh." Ihr Blick wanderte von meinen brennenden Augen zu meinem verschwitzten T-Shirt und zurück und ich sprach die Frage aus, die ich kurz hinter ihren Augen aufflackern sah.
„Kann ich morgen zuhause bleiben?", flüsterte ich und spürte, wie ich rot wurde. Ich wollte nicht gehen- und ich würde auch unter keinen Umständen hingehen, egal, was sie antworten würde. Gleichzeitig hoffte ich, dass sie mir ersparen würde, mich morgen Vormittag irgendwo verstecken zu müssen.
„Ja, sicher." Sie hob die Hand, legte sie kurz auf meine Schulter und schüttelte mich sanft. „Wenn du mir versprichst, dass du Übermorgen wieder hingehst."
Erleichtert nickte ich und murmelte ein Danke.
„Nicht dafür." Sie stand auf, ging zu meinem Schrank, zog ein trockenes T-Shirt heraus und warf es mir zu. „Ziehe dich um. Ich hole dir noch ein Glas Wasser und danach machst du deine Augen zu und schläfst dich aus. Vor zehn will ich dich morgen nicht auf den Beinen sehen."
Den Gefallen tat ich ihr. Nachdem ich mein nasses T-Shirt irgendwo in die Dunkelheit auf den Boden geworfen und mir stattdessen das frische Shirt über den Kopf gezogen hatte, stand sie wie angekündigt mit einem Glas Wasser in der Tür und reichte es mir. „Schlaf gut, Lukas, ja?", sagte sie und nahm mich flüchtig in den Arm.
Ich nickte und währendich zum ersten Mal überhaupt ihre Umarmung erwiderte, blieb das mir sonst gutbekannte Gefühl, jemand Fremdes würde sich mir aufdrängen, aus. Damals bemerkteich es nicht, aber ich sollte noch Jahre später an diesem Moment zurückdenken,in dem sich zum ersten Mal nach Jahren jemand bedingungslos auf meine Seite gestellthatte.
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Schönes Wochenende, meine Lieben
Was schätzt ihr? Kommt unser Lukas langsam in seinem neuen Zuhause an oder ist das nur ein kurzer Augenblick des Durchatmens? ;)
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Lieblingstag
Genç KurguInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...