Kapitel 7: Frohes Neues (5)

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Nach ihrem Anruf streckte ich meine mittlerweile kalten und steifen Beine und stand auf. Sie würde sauer sein. Es war noch keine vierundzwanzig Stunden her, dass ich Inga zum ersten Mal geküsst hatte und sie war garantiert jetzt gerade in diesem Moment zum ersten Mal wütend auf mich. Ich hatte es echt drauf.

„Schlaf gut, Galli.", murmelte ich, als ich ihre Boxentür hinter mir verriegelte und durch die dunkle Stallgasse nach draußen ging. Als ich an die frische Luft trat, sah ich neben dem wolkenlosen Sternenhimmel, der eine verdammt kalte Winternacht versprach, Licht im Haus, in der Küche. Sie waren also zurück. Erleichtert atmete ich aus und schüttelte noch im selben Augenblick über mich den Kopf. Hatte ich ernsthaft erwartet, dass sie nicht zurückkämen? Wohl kaum. Trotzdem hatte das Licht in der Wohnung unter dem Dach eine seltsam beruhigende Wirkung. Als ich oben meine Jacke weghängte, lief im Wohnzimmer der Fernseher und Kim und Felix guckten ungewöhnlich einträchtig Drachenzähmen leicht gemacht.

„Wo warst du?", fragte Kim und wirbelte herum, als sie mich bemerkte.

„Hier. Wo sonst? Wie war's bei euch?" Seufzend schob ich meine durchgefrorenen Hände in die Hosentaschen.

„Wir waren gerade schwimmen.", sagte Felix, strahlte mich überglücklich an und platzte fast vor Stolz, als er mir erzählte, dass er gerutscht sei. Alleine.

„Die Rutsche war so groß wie du, Felix. Komme runter." Kim knuffte ihm gegen den Arm, lächelte aber großmütig. Scheinbar hatte das Wasser vorübergehend das Gift von ihrer Haut gewaschen. Sie wäre fast als taugliche große Schwester durchgegangen. „Wolltest du nicht mit?"

„Hab' verschlafen.", log ich und zuckte mit den Schultern. Deswegen hatte Julian also die Sporttasche mitgenommen. Sie hatten sich also einen Familientag gemacht- etwas, was sie ungefähr nie machten. Und sie hatte mich- oder ich hatte mich- sehr wirksam ausgeschlossen. „Ich hole mir was zu Essen.", sagte ich und überging damit Felix' Bettelei, ich solle unbedingt den Film mitgucken. Ich wollte jetzt keinen Kinderfilm sehen. Nicht bevor ich mich nicht entschuldigt hatte. Nicht, solange ich nicht wusste, ob ich die Nacht über an den Füßen aufgehängt aus dem Küchenfenster baumeln würde- zumindest metaphorisch. Vor eben diesem Fenster stand der große Esstisch und als ich die Küche betrat, saßen Sina und Julian nebeneinander, ein Weinglas neben und den Laptop zwischen sich. Scheinbar hörte die Arbeit dann doch nicht auf.

„Hey.", sagte ich, als die beiden mich bemerkten und gleichzeitig hochschauten. „Wie...Wie war es? Im Schwimmbad?", schob ich nach, als keiner etwas sagte.

„Schön.", sagte Sina dann und deutete nachlässig auf den Backofen. „Wir haben dir Spinatauflauf übrig gelassen."

„Danke." Ich starrte auf den Backofen und mein Magen rumpelte laut bei dem Gedanken an Essen. Trotzdem unterdrückte ich den Impuls, mich einfach mit dem Essen in mein Zimmer zu verziehen und setzte mich stattdessen nervös zu den beiden. „Ich wollte mich entschuldigen.", sagte ich schnell, bevor sie sich wieder dem Laptop zugewandt hatten. „Ich..."

„Ich werde morgen unsere Sachbearbeiterin im Jugendamt anrufen.", sagte Julian leise und fiel mir damit ins Wort.

„Was?", flüsterte ich und hielt geschockt inne. Hilflos starrte ich ihn an und schüttelte heftig den Kopf. Ich bekam kein Wort über meine Lippen. Keine Entschuldigung, kein nichts.

„Lukas...", sagte Sina und streckte ihre Hand nach meiner aus. Ich zog meine von der Tischplatte und verschränkte meine zitternden Hände in meinem Schoß. „Wir sollten mit jemandem darüber sprechen, was gestern passiert ist und warum. Das ist wichtig." Eindringlich sah sie mich an und streckte ihre Finger weiter nach meiner Hand aus, aber ich rührte mich nicht. Ich sprach nicht und bewegte mich auch nicht in den folgenden Minuten. Stattdessen versuchte ich zuzuhören, während erst Sina und dann Julian davon sprachen, dass sie mich nicht abschieben, nicht loswerden wollten. Trotzdem- oder vielleicht gerade deshalb- hielt ich kaum aus, wie Julian mir erklärte, dass wir wohl an dem Punkt angekommen wären, auf den man sie damals schon hingewiesen habe, als es darum gegangen sei, einen Jugendlichen als Pflegekind aufzunehmen. Man hätte ihnen damals klar gesagt, dass sie damit rechnen müssten, dass ich in der jugendlichen Ablösephase- ich erfror und überhitzte gleichzeitig bei dem Ausdruck- vielleicht die Familie würde verlassen wollen, eben weil sie nicht meine Eltern waren und die Familie nicht meine Familie war. Weil es dann oft zu Problemen käme. Weil der Umzug in eine Wohngruppe dann oft gewünscht wurde- von Seiten des Pflegekindes. Ich spürte unterdessen meine ohnehin kalten Beine und Füße einfach nicht mehr und irgendwann gab ich den Blickkontakt zu Julian auf, weil es sehr viel einfacher war, meine Jeans zu fixieren. Ich hatte Inga, den Zwerg, mein Zimmer und sogar Galina. Für keine Wohngruppe der Welt hätte ich das freiwillig aufgegeben und ich war mir sicher, dass er das wusste, wissen musste.

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