Gestrandet zwischen Bielefeld und Hannover
Ich warf einen Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk und unterdrückte mühsam ein Ächzen. Wir standen seit einer Dreiviertelstunde- und es tat sich nichts. Nichts. Wir standen einfach in diesem ICE in der Pampa herum und so langsam heizte sich nicht nur die Innentemperatur auf. Mein Gegenüber tippte mit Zornesfalte auf der Stirn Nachrichten in ihr Handy und ich hörte die ersten wütenden Telefonate mit- Bahnfahren eben. Auf mich wartete zwar weder ein Geschäftstermin noch die Familie mit dem Abendessen noch meine Ex-Freundin, aber die Warterei machte mich trotzdem mürbe. Ich würde Inga erst anrufen, wenn ich den Boden der Berliner Bahnhofshalle unter den Füßen hätte und so lange hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was mich erwartete. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie mich überhaupt sehen wollte. Vielleicht sind die beiden im Urlaub, dachte ich und spürte ein nagendes Gefühl zwischen meinen Rippen, das mich an einen Marder erinnerte und fraglos mit Eifersucht zu betiteln war. Du fährst da nicht hin, um sie nach Hause zu holen, erinnerte ich mich selbst und versuchte dem Mader seine Lebensgrundlage zu entziehen, indem ich mir vor Augen führte, was seit vielen Monaten die neue Realität war: sie war schon eine Weile mit ihrem Typen zusammen. Er hieß Stefan, er war ein paar Jahre älter und Jurist. Ich hatte keine Ahnung, woher die beiden sich kannten. Juan und Daniel, die garantiert mehr zu dem Thema wussten, schwiegen sich zu diesem Detail beharrlich aus. Er schien nett zu sein. Er schien sie ernsthaft zu mögen und hatte alle Zelte abgebrochen und war sofort mit ihr nach Berlin gezogen, kaum dass sie dort eine Jobzusage bekommen hatte. Inga war keine Social Media Queen, aber wann immer sie dann doch mal bei Instagram eine neue Story oder ein neues Foto hochlud, sah sie glücklich aus. Ich hatte nicht den leisesten Grund anzunehmen, dass ihr irgendetwas in ihrem neuen Leben nicht passte und noch weniger Hoffnung, dass ausgerechnet ich ihr fehlte. Sie hat es beendet, schob ich dem Marder in den Rachen, der mehr davon abbiss als er vertragen konnte und sich hustend verzog. Das hatte sie, mit Vorwarnung. Und trotzdem passte da etwas nicht. Pu und Ferkel auf diese Stufen zu malen, sich und mich auf diese Stufen zu malen und nur Tage später ihre Sachen zu packen, das passte nicht. Inga hatte schon immer eine sehr klare, nicht so leicht zu beeinflussende Meinung gehabt. In wichtigen Fragen war sie niemals kurzentschlossen gewesen. Sie war klar und ruhig wie ein Bergsee. Uns zu malen und dann mit der Begründung zu gehen, mit der sie gegangen war, das war nicht sie.
Beinahe Ostern, zwölf Jahre zuvor
Lugar legte seine Ohren in den Nacken und sein Kopf schoss in meine Richtung. Ungehalten mit den Zähnen knirschend sah er mich an und ich widerstand nur mühsam dem Drang die Bürsten in die Ecke zu pfeffern und das Pony für den Tag Pony sein zu lassen.
„Halt still.", fauchte ich stattdessen, band das schwarze Reitpony kürzer an und trat einen Schritt zurück, um mich zu sammeln. Der Tag war in seiner Gesamtheit furchtbar. Ich hatte meine Mathearbeit wiederbekommen und die vier minus – mit einem Minus von Hamburg bis München, wie der Lehrer freundlicherweise schriftlich unter der Bewertung festgehalten hatte- lag in meinem Rucksack und musste noch gebeichtet und unterschrieben werden. Wie die letzte. Nicht, dass es dabei Stress gegeben hatte, aber ich war mir sicher, dass Julian und Sina nicht begeistert darüber wären, dass ich ständig gerade so an der Bestehensgrenze herumkratzte. Ich wollte keinen Stress machen. Ich wollte ihnen keinen Grund geben in Frage zu stellen, ob das mit mir funktionierte. Der Gedanke, mein sicheres Reich unter dem Dach wieder räumen zu müssen, ließ meine Augen in zurückgehaltenen Tränen schwimmen und ich legte meinen Kopf in den Nacken, um sie am Überlaufen zu hindern. Zusätzlicher Stress war das letzte, was ich verursachen wollte. Davon gab es gerade genug. Ich war nicht sicher, was schief lief und was nachts hinter geschlossenen Türen diskutiert wurde, aber Sina und Julian gerieten in den letzten Wochen ständig so heftig und so böse aneinander, dass es einen anhaltend bitteren Geschmack in der Luft hinterließ, den man beim Einatmen der Luft auf der Zunge schmeckte. Ich war fast erleichtert gewesen, als Sina über das letzte Wochenende mit ihren Pferden unterwegs gewesen und wir alleine mit Julian zuhause geblieben waren. Es waren vier himmlisch ruhige Tage gewesen, in denen selbst Kim auf Wutausbrüche verzichtet hatte. Seit Sina zurück war, krachte es wieder an allen Fronten. Ich schniefte und fing an, Lugar vorsichtiger den Winterpelz aus dem Fell zu bürsten. Er war kitzelig und ich passte dieses Mal besser auf, als ich ihn unter dem Bauch bürstete. Eigentlich wusste ich schon lange, wie er es hasste, unterm Bauch geputzt zu werden, aber ich hatte mich von meiner schlechten Laune mitreißen lassen. Entschuldigend klopfte ich seinen schwarzen Hals und atmete seufzend aus, während Lugar mich misstrauisch anschielte, aber immerhin seine Nase vorne und seine Hufe auf dem Boden stehen ließ. „Brav.", murmelte ich und hielt alle paar Bürstenstriche inne, um das schwarze Fell aus der Bürste zu lösen. Neben der Mathearbeit und der unheimlichen vulkanischen Aktivität vor meiner Schlafzimmertür war das Gespräch in der Schule heute auf ein Thema gekommen, dass ich bisher erfolgreich vermieden hatte und vom dem ich nicht erwartet hatte, dass es in dieser Form auf den Tisch kommen würde. Eines der Mädchen aus meiner Klasse, sie hieß Laila und ritt offensichtlich, hatte mich am Reitverein gesehen. Kim hatte dort Springstunde gehabt, Sina hatte sie gefahren und ich war mitgekommen. Und heute hatte Laila dann vor mir gestanden und mich mit großen Augen gefragt, woher ich Sina Mertens kannte. Ein ganzer Eimer mit Eiswürfeln hatte sich bei der Frage in meinen Magen entleert und ich hatte versucht betont cool zurückzufragen, woher sie Sina denn kannte. „Ich reite, man. Ich reite für den gleichen Verein wie sie und wir haben vor drei Jahren alle zusammen vorm Fernseher gehangen, als sie die WM geritten ist." Sie hatte mich dabei angesehen, als sei ich vollkommen dämlich und so hatte ich mich auch gefühlt. Klar, ich wusste, dass Sina ziemlich erfolgreich ritt und damit Geld verdiente, aber ich hatte nie darüber nachgedacht, dass irgendjemand sie deswegen kennen würde. Ziemlich naiv, aber in meinem Umfeld hatte nie jemand groß über Leute gesprochen, die erfolgreich ritten. Reiter waren schließlich keine Fußballspieler. „Also?", hatte Laila nachgehakt.
„Ich reite da.", hatte ich geantwortet und gespürt, wie mir bei den Worten das Blut aus dem Gesicht gewichen war.
„Niemand reitet da.", hatte Laila erwidert und den Kopf geschüttelt, offensichtlich überzeugt davon, dass ich ihr gerade ins Gesicht log. „Die gibt keinen privaten Unterricht."
„Woher weißt du das?", hatte Inga, die neben mir saß, gefragt und war aus dem Vokabelteil des Englischbuches aufgetaucht. „Hast du es probiert und bist abgeblitzt?"
Laila war ziegelrot angelaufen und hatte ein neidvolles „Du hast doch keinen Plan vom Reiten. Du hast doch noch mehr Angst vor Pferden als du Punkte im Physiktest schaffst.", gezischt.
Inga hatte unbeeindruckt die Arme vor der Brust verschränkt und mit einem breiten Grinsen geantwortet. „Stimmt. Aber vielleicht hast du weniger Plan vom Reiten als Lukas."
„Die gibt keinen Unterricht.", hatte Laila bekräftigt und ihren Blick wieder auf mich gerichtet. „Bist du mit denen verwandt?"
„So in der Art.", hatte ich gemurmelt und ziemlich schnell gerafft, dass ich aus der Nummer nicht mehr herauskommen würde. Es war ein Wunder gewesen, dass das Thema so lange unterm Deckel geblieben war und es würde sich sowieso seinen Weg ans Licht bahnen. Das tat es immer. „Ich wohne da.", hatte ich gesagt und mit den Schultern gezuckt, als würde mich das nicht berühren.
„Alter, lüge mich nicht an, ich..."
„Meine Eltern sind tot, ich bin ein Pflegekind und ich wohne da. Echt jetzt." Die Worte waren hastig, aber nicht ungeübt aus meinem Mund gestolpert und ich hatte Inga mit zitternden Fingern ihr Englischbuch aus der Hand gerissen und war hinter irgendeiner Seite verschwunden, die vor meinen Augen verschwommen war. Und das nicht nur, weil ich das Buch nicht hatte stilhalten können. Scheiße. Laila hatte zu einer Antwort angesetzt, aber Inga hatte sich neben mir mit einem süffisanten Lächeln nach vorne gebeugt.
„Er kann dir bestimmt eine Autogramm besorgen, wenn du ganz lieb fragst. Wenn du was anderes willst, dann zische ab."
Nur Momente später war der Englischlehrer aufgetaucht und hatte seine Stunde begonnen, während ich reglos hinter Ingas Buch gesessen hatte. Sie hatte einen großen Schluck Wasser aus ihrer Flasche genommen, in ihre Tasche gegriffen und mir unauffällig ein Taschentuch zugeschoben. Danach hatte sie mein Buch, dass in einem offenen Rucksack zwischen uns steckte herausgezogen und sich dem Unterricht zugewandt, als ob nichts passiert sei. Am Ende des Schultages hatte ich es trotzdem von allen Seiten gehört und es waren lange nicht mehr nur Lailas Blicke gewesen, die brennende Spuren auf meiner Haut hinterließen.
Es waren eben diese Spuren, die unerträglich auf meinem Gesicht und unter meinen Klamotten prickelten, während ich den kitzeligen Lugar auf meine Reitstunde vorbereitete und er mich dazu zwang, meine Sinne immerhin soweit zu sortieren, dass ich keine Ponyzähne in meinem Arm riskierte.
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Tja, alles nicht so einfach für Lukas, oder?
Schönen zweiten Advent euch :)
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Lieblingstag
Teen FictionInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...