Kapitel 20: Pflaster (2)

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Lukas


Die folgenden Wochen hätten furchtbar werden können. Mein Professor fragte nach dem Fortschritt meines Projektes und ich konnte so gerade davon berichten, dass ich jetzt die relevanten Begrifflichkeiten drauf hatte- zumindest glaubte ich das zu dem Zeitpunkt- und immerhin schon erkannt hatte, in welche Richtungen es sich wohl nicht mehr lohnte zu forschen. Er hatte eine andere Meinung als ich- und ich verbrachte viel Zeit mit dem Kopf in Literatur, die ich schon einmal gewälzt und fälschlicherweise für irrelevant befunden hatte. Irgendwie bereitete ich nebenher mein Seminar vor und kämpfte mit der IT-Abteilung, weil mein Dozenten-Login hartnäckig nicht funktionierte. Ich sah mich sogar schon mit Schwamm und Kreide an einer alten Tafel stehen und meine PowerPoint-Präsentation in den Papierkorb meines Rechners schieben. Ich ging dazu über, Tee statt Kaffee zu trinken, weil mich die Serie an Pleiten schon nervös genug machte. Meine Kollegin, der ich in einer Mittagspause an einem besonders miesen Tag beichtete, dass ich das Gefühl hatte, rückwärts statt vorwärts zu laufen, tätschelte mir den Arm und versicherte mir beinahe glaubhaft, ihr sei es das erste Jahr nicht besser gegangen. Ich kaufte es ihr nicht ab, wusste aber die Geste zu schätzen. Von da an brachte ich ihr Snickers aus dem Bistro mit und sie versprach, sich mein Exposé für mein Forschungsvorhaben durchzulesen, sobald ich es denn fertig hatte. Meine Zweifel daran, dass es je ein ausformuliertes Projekt geben würde, hatte sie nicht gelten lassen wollen.

Von Inga hörte ich nichts. Ich schrieb ihr nicht und rief sie nicht an. Nicht, weil mich nicht interessierte, wie es ihr ging, aber weil ich sie nicht unter Druck setzen wollte. Wenn sie noch nicht bereit war, sich zu melden, dann hatte das Vorrang davor, dass ich gern ruhig schlafen wollte. Einmal rief ich Mark an, aber der hob nicht ab und ein Rückruf blieb auch aus. Danach war ich mir fast sicher, dass Inga ihm von uns erzählt hatte. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass er mir nicht einmal erzählen wollte, ob Inga in der Klinik angekommen war und wie sie zurechtkam. Ein andermal dachte ich darüber nach, ihre Eltern anzurufen, die in der Zwischenzeit garantiert erfahren hatten, was an diesem grauen Herbsttag passiert war. Die Idee verwarf ich jedoch. Die Familie hatte mit sich genug zu tun und Inga mit sich. Ich würde mit nicht noch einmal, wie an Weihnachten, ungefragt in Ingas Leben drängen. In mehr als einer Nacht lag ich wach und fragte mich, wie groß meine Schuld war und ob die Eskalation ausgeblieben wäre, wenn ich nicht zu ihr gefahren wäre- oder wir zumindest nicht miteinander geschlafen hätten. Wie ich es auch drehte und wendete, ich kam zu keinem Schluss. Nur zu der Erkenntnis, dass es sich niemals wiederholen würde. Sie und ich, das war spätestens jetzt so kaputt, dass mir der Gedanke daran, was wir auseinander gemacht hatten, Übelkeit verursachte. Und in besonders langen Nächten kehrte jenes unruhige Kribbeln zurück auf meinen Rücken und in meine Beine, dass so lange weggeblieben war. Es hielt mich wach, zusammen mit einer unerträglich lauten, mich zermürbenden nächtlichen Stille in den Ohren. Beides war noch mit mir bei den Feldmanns eingezogen und beides war endgültig weggegangen, als Ink mich zum ersten Mal geküsst hatte. Im Sommer, nach meinem Trip nach Berlin, war es auf eine Stippvisite vorbeigekommen, aber sonst hatte es mich in Ruhe gelassen. Jetzt klebte es wieder an mir und ich hielt es auf Abstand so gut wie ich konnte.

Und trotzdem. Obwohl ich chronisch unausgeschlafen und angespannt war und viel zu oft auf mein Handy schielte, ging ich nicht unter. Das lag auch an Lena, die mir und Juan eine ganze Bilderreihe schickte: Daniel, der in der Bibliothek auf seinem Lehrbuch brütete; Daniel, der mit zwei leeren Pizzakartons neben sich und einer halben Rosinenschnecke im Mund eine Hausarbeit schrieb; Daniel, der mit erleichtertem Gesicht und Siegerfaust aus seiner großen Angstprüfung kam. Dazu der Kommentar, der verliebter und erleichterter gemeint war, als er klang: „Ich bin ihm doch noch einen Abschluss wert." Den Bildern folgte eine offizielle Einladung zur Hochzeit der beiden im Herbst und Juan und ich wurden keine Stunde später als Daniels Trauzeugen verpflichtet. Bereits am darauffolgenden Morgen ließ Juan den Posteingang meines E-Mail Kontos mit peinlichen Partybildern explodieren. Ich versprach ihm, sie irgendwann im nächsten halben Jahr zu sichten und daraus mit ihm eine unvergessliche Märchenstunde für die Hochzeitsfeier der beiden zu machen- ließ die Bilder aber erstmal ruhen, als ich auf beinahe der Hälfte der Fotos ein mir fast fremdes, lachendes Mädchen mit leuchtend roten Locken sah.

Dann half Felix, der mir fast im Wochentakt Bilder von sich und Niro schickte: weiße Reithose, ein strahlendes Lächeln, dazu ein schwarzes Pony und eine gelbe Schleife- das Motiv änderte sich kaum. Felix, der eigentlich bisher nur mit Niro hatte zusammenwachsen sollen, räumte alles ab. Kim, die auch ein Bild von ihm bekommen hatte, leitete es mit mit einem bissigen „Wenn die Ponyzeit erstmal um ist, lacht der nicht mehr. Und so schnell, wie dessen Beine länger werden, ist die eher früher als später vorbei." an mich weiter. Überhaupt, sie, die in den ersten Wochen in Renesse überglücklich gewesen war, ließ zunehmend weniger von sich hören und wenn, dann hatte es oft einen biestigen, unzufriedenen Unterton. Erst, als ich sie anrief, deutete sie in ein, zwei Nebensätzen an, dass sie und Paul mit der Distanz zu kämpfen hatten. Darüber sprechen wollte sie aber nicht und auf mein Angebot, für ein Wochenende nach Berlin zu kommen, ging sie auch nicht ein.

Was mir wirklich dabei half, diese Zeit zu überstehen, waren die Sonntagnachmittage in der Boulderhalle. Ich hatte eines meines Hobbys der letzten Jahre wiederaufleben lassen und ich genoss nichts mehr, als mich mit brennenden Muskeln und wachem Kopf die verschiedenen Routen entlang zu probieren. Stunde um Stunde, bis die kaputte Haut an den Händen mich in den Feierabend zwang. Dann, und wann immer die Muskulatur in meinen Unterarmen sich verkrampfte und eine Pause verlangte, setzte ich mich auf die Matte und half Pia dabei, Boulder zu lesen. Oder ich machte ihr wahlweise Mut oder spottete liebevoll, wenn sie furchtlos und ohne Schwierigkeiten das Ende des Boulders erreicht hatte- und dann nicht abspringen konnte, wenn sie realisierte, wie weit ihre Füße sich vom Boden entfernt hatten. Sie hatte mich genau eine Woche nach Ingas Selbsteinweisung angerufen und mich gefragt, wie es mir gehe. Ob ich zurechtkäme und ob sie etwas für mich tun könne. Ich hatte mich für ihren Notfalleinsatz bedankt, für die beste Nudelfertigsauce, die ich in Berlin bisher gegessen hatte und sie nach ihrer Prüfungsphase gefragt. Und als sie daraufhin hörbar Panik geschoben hatte, ohne das Wort Angst in den Mund zu nehmen, hatte ich die Chance genutzt und sie zum Bouldern eingeladen. Seitdem boulderten wir Sonntagnachmittags und tranken danach in der benachbarten Kneipe Radler und aßen Pizza. Dieses Ritual hatte sich schneller eingeschlichen, als ich es hatte hinterfragen können und so mies die zurückliegende Arbeitswoche oder Nacht auch sein mochte, ich ging hin. Das Bouldern tat gut, die Anstrengung und das leckere Essen danach taten gut und ich merkte schnell, wie tief ich nur in den Nächten von Sonntag auf Montag schlief. Und Pia, die selbst oft mit angespanntem Gesicht an der Halle ankam, tat die Auszeit sichtlich gut. Am Ende des Tages strahlte sie meistens ziemlich zufrieden. Sie kam sogar am Sonntag vor der letzten Klausur des Semesters und schob die letzte Lernsession auf den späten Abend. Natürlich bestand sie trotzdem- Pia war einfach smart. Smart und ehrgeizig und fleißig und dabei blieb sie trotzdem mit den Füßen auf dem Boden der Tatsachen. Vielleicht, weil sie genug Tiefschläge erlebt hatte und vielleicht, weil sie sich alles selbst arbeiten musste, egal, wie leicht es von außen aussah. Sie beschwerte sich mir gegenüber nie darüber, dass sie neben ihrem Studium einen Großteil ihres Geldes selbst verdienen musste. Nur einmal deutete sie an, dass sie Stress mit ihrem Vater hatte, weil der mal wieder vergessen hatte, ihr Geld zu überweisen- oder es hatte vergessen wollen. Es erinnerte mich daran, dass ich mein Studium quasi auf einem Bett aus Rosen gemacht hatte- mein Job hatte nicht meine Wohnung und auch nicht mein Essen finanziert, sondern hatte mir ein großzügiges Taschengeld und meine erste Berufserfahrung beschert. Julian und Sina hatten mir Unterhalt überwiesen, ein Auto überlassen und Galina zuhause durchgefüttert. Bei dem Gedanken bekam ich eine vage Idee davon, unter wieviel Druck Pia gestanden haben mochte, als sie Niro noch neben dem Studium hatte finanzieren müssen. Wie sehr sie an ihrem Pony hing, merkte ich wieder, als ich ihr einmal beim Essen eines der Bilder von Felix und Niro zeigte. Sie lächelte ehrlich, aber gleichzeitig wackelig.

„Kaderpony in the making.", sagte sie dann leise. „Hat der Dicke mit mir nie geschafft. Die zweite Karriere wird wohl erfolgreicher als die erste, jetzt, wo der Jockey nicht mehr im Weg steht." Dann wechselte sie das Thema schneller als ich es verhindern konnte und schlug ihre Hand energisch auf den Tisch. „Was ist eigentlich mit Kim-Marie? Wieso höre ich nichts von deiner Schwester? Und wieso höre ich nichts von Paul?"



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