Kapitel 9: Blau (8)

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Berlin

Die Erinnerung an das Gespräch, das wir an jenem Abend auf unserem Sofa geführt hatten war so frisch und lebendig, als hätte es gestern stattgefunden. Als wäre es eben passiert und nicht, als ob ich mich innerlich darauf vorbereitete, meine Ex-Freundin zu besuchen. Jetztm mit Blick auf die Spree, sah sich sie wieder vor mir, wie sie mit sich gerungen hatte, bevor sie damals endlich ausgesprochen hatte, wie sie sich ihre - unsere- Zukunft vorgestellt hatte. Ich erinnerte mich daran, wie mit jedem ihrer Worte abwechselnd Ungläubigkeit und Erleichterung über mich geschwappt waren, als sie fast beschämt zugegeben hatte, dass ihr Traum vielleicht nicht mehr der war, mit dem sie die Schule verlassen hatte. Das sie einfach nicht wusste, wie sie sich selbst, mir und ihren Eltern gegenüber vertreten sollte, dass sie vielleicht gar nicht das Karrierebiest war, das ihr zu Schulzeiten alle auf den Leib geschneidert hatten. Ich sah immer noch ihren gequälten Gesichtsausdruck vor mir, mit dem sie mich nur halb scherzhaft gefragt hatte, ob sie eine furchtbare Feministin wäre, wenn sie in den letzten Monaten, gerade nach der stressigen Bachelorarbeit und dem anschließenden Masterplatzdesaster, manchmal den Gedanken an eine Familie verlockender gefunden hatte als den an Firmenmeetings und Bedarfsanalysen. Ich erinnerte mich daran, wie sie geguckt hatte, als ich ihr gesagt hatte, dass die Sache mit dem Heiraten für mich wirklich mehr eine Frage des Wann als des Ob war und ihr darüber hinaus versicherte, dass wirklich kein Haarausfall der Welt daran etwas würde andern können. Ich erinnerte mich daran, wie es sich danach angefühlt hatte, sie zu küssen. Die Freude und Erleichterung über die geteilten Zukunftspläne. Die Hoffnung, dass das alles Wirklichkeit werden würde. Die Verantwortung, die damit kam, das unsere Beziehung einen weiteren Schritt von der Unverbindlichkeit weggemacht hatte- damals hatte sie sich nicht schwer angefühlt. Sie hatte sich auch danach nie schwer angefühlt. Zumindest nicht für mich.




Sommer, anderthalb Jahre zuvor


Ein kaltes nasses Handtuch klatschte mir unvermittelt und fest ins Gesicht und ich zuckte erschrocken aus dem Tiefschlaf.

„Aufstehen!", befahl Inga gut gelaunt. „Duschen, Frühstück, Anziehen und zur Kirche fahren."

Ich warf nur das nasse Handtuch auf den Boden und zog mir dann die Decke über den Kopf. „Wie spät?" Meine Augen brannten und mein Kopf war so schwer, als sei ich eben erst ins Bett gegangen.

„Gleich zehn, Lukas. Genug Schönheitsschlaf!" Sie kam mit drei großen Schritten zum Bett, kletterte über mich und zog mir mit sanfter Gewalt die Decke vom Gesicht. „Faxi, mein Bruder heiratet nur einmal. Auf, auf, Faultier!"

„Faultier.", protestierte ich lahm. „Ich habe gestern bis um drei ein Zelt aufgebaut, eure Garage geschrubbt, Biergarnituren und Bierkästen geschleppt, Weine getestet, eine Musikanlage verkabelt und am Ende noch Tischdeko verteilt."

„Braver Faxi.", feixte Inga, die immer noch über mir kniete. „Die Trauung ist trotzdem in zweieinhalb Stunden und du musst noch frühstücken, unter die Dusche, in deinen Anzug klettern und vor Ort ein paar Fotos schießen, während ich die Hände der Verwandtschaft schüttele- und die von Niko gut festhalte."

„Ich brauche fünf Minuten zum Duschen, fünf zum Essen, fünf zum Anziehen und fünf für die Fotos.", rechnete ich ihr halbernst vor und spürte im gleichen Augenblick, wie sie mir fest gegen die Rippen boxte.

„Mir egal: aufstehen, jetzt!" Damit schwang sie sich von mir herunter. „Außerdem hat Julian für uns Kaffee gemacht. Der wird kalt, wenn du dich nicht rührst."

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