Lukas
„Da sind wir."
„Da bist du." Inga zog den Schlüssel ab und spähte vom Auto aus durch die Frontscheibe, über die schwere Regentropfen liefen, hoch zum Licht in der Küche. Draußen war es längst dunkel geworden und die Straßen waren auf dem Weg von Ingas Elternhaus hierher wie ausgestorben gewesen- die meisten Menschen waren schon daheim.
Meine Klamotten, die ich wieder angezogen hatte, waren immer noch nass und trotz der angeschalteten Heizung im Auto, fror ich. Wie Ink sah ich hoch und erkannte schemenhaft Julian, der sicher die Vorbereitung des Fondues längst in die Wege geleitet hatte und- und daran hatte ich keinen Zweifel- mindestens mit halbem Ohr auf meine Schritte im Treppenhaus lauschte. Er machte sich garantiert Sorgen- oder wie er es nennen würde- Gedanken wegen meines Besuches bei Inga.
„Ich hoffe, du bereust das nicht.", sagte Ink passenderweise neben mir und atmete schwer aus.
„Keine Ahnung.", murmelte ich aufrichtig und richtete meinen Blick auf sie. Ihre kurzen Haare, ihr ungewohnt schmales Gesicht und ihre blasse Haut erzählten weiter jene Geschichte, die sie vor ein paar Monaten in ihrer Küche ausgepackt hatte, aber ich hatte heute nicht ein Wort davon gehört. Nachdem sie versucht hatte sich zu entschuldigen, hatte sie zugehört. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte sie getan, was ihr früher so leicht gefallen war, was früher so selbstverständlich gewesen war. Aufmerksam sein, Zuhören, Dasein. Irgendwann- und das begriff ich erst jetzt- hatte sie damit aufgehört. Und ich hatte es lange weder bemerkt noch hinterfragt. Vielleicht war das der Fehler gewesen. Vielleicht hätten die Dinge sich anders entwickelt, wenn ich bemerkt hätte, dass etwas anfing schiefzugehen, wenn ich nur nachgefragt hätte, bevor sie beschlossen hatte, Dinge mit sich selbst auszumachen statt sie mir anzuvertrauen. „Bist du okay?", fragte ich in die Stille, während wir uns gegenseitig musterten, als wären wir auf der Suche nach irgendetwas.
„Nicht wirklich, nein." Ein schwer zu deutendes Lächeln legte sich über ihre Lippen. „Aber es war schön, dich zu sehen. Ich bin froh, dass..."
„...ich meinen Scheiß bei dir abgeladen habe?"
„Irgendwie schon, ja. Vielleicht habe ich das vermisst."
„Friedhof- und Familiendramen?", scherzte ich und war froh, wenigstens für einen Moment von ihr keine heile Welt vorgespielt zu bekommen.
„Du bist unmöglich, Luke. Zum Glück kannst du schon wieder Blödsinn reden. Sei froh, dass ich dich immer weiß, wie man dich zusammenklebt. " Sie schmunzelte und es war die erste Gefühlsregung des Tages, die ihre Augen erreichte. In dem Moment war sie die Inga, die ich so unbedingt hatte sehen müssen und ja, die, die mich zusammengeklebt hatte, als ich eben gedroht hatte, auseinanderzufallen.
„Dich gibt es ja doch noch."
„Oh haha." Sie verdrehte die Augen und schüttelte langsam den Kopf, während die nachdenkliche Ernsthaftigkeit sofort wieder von ihr Besitz ergriff. „Unkraut vergeht nicht, das weißt du doch.", fügte sie knapp hinzu und betrachtete angestrengt ihre Finger.
„Du solltest öfter lächeln."
„Lukas..." Das letzte bisschen Scherzhaftigkeit wich aus ihrem Gesicht und sie sah fast erschrocken aus. „Nicht."
„Du bist halt schön, wenn du lächelst.", bekräftigte ich und so sehr wie sie sich unter dieser so simplen wie wahren Feststellung wand, so wenig wollte ich sie zurücknehmen.
„Ich halte es nicht aus, wenn du das sagst." Sie ließ ihren Kopf gegen die Nackenstütze sinken und schloss die Augen, während ich schuldbewusst verstummte. Es war zu viel und vielleicht stand es mir wirklich nicht länger zu, solche Dinge zu ihr zu sagen. Gleichzeitig hatte ich so sehr gehofft, sie würde für einen Augenblick lang daran glauben.
„Kommt Mark eigentlich über die Feiertage zu euch?" Dass er nicht dagewesen war, dass sie sich überhaupt bei mir gemeldet hatte, dass sie ihn den ganzen Nachmittag über mit keinem Wort erwähnt hatte, all das malte für mich ein überdimensional großes Fragezeichen über was auch immer die beiden hatten.
„Das weiß ich noch nicht.", antwortete sie, ohne ihre Augen zu öffnen.
„Wegen eben?"
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Wegen immer und allem. Wegen mir."
„Willst du...?"
„Nein." Sie schlug ihre Augen wieder auf und die Anstrengung, mit der sie ihr Kinn hob und ihre Mundwinkel hochzog schien unerträglich hoch zu sein. „Wir- er und ich- wir kriegen das hin. Es ist okay, Luke. Mache dir keinen Kopf. Springe unter die Dusche, ziehe dir trockene Sachen an und feiere Weihnachten mit deiner Familie. Und danach schnappe dir eine Begleitung und hole dir deine Sachen bei deiner Tante ab. Und erwarte nichts von ihr, okay?" Sie beugte sich über mich, öffnete meine Autotür und drückte mir in einem Sekundenbruchteil, der vorbei war, bevor ich es richtig realisiert hatte, einen Kuss auf die Wange, den ich noch spürte, als er längst vorbei war. „Und komme gut ins neue Jahr, okay?" Mit den Worten schubste sie mich fast aus dem Auto und startete den Motor.
„Frohe Weihnachten, Ink!", rief ich und kaum, dass ich die Autotür zugeschlagen hatte, fuhr sie los und ließ mich im strömenden Regen stehen, während ich dabei zusah, wie die Rücklichter ihres Autos sich auf der Hofeinfahrt langsam entfernten.
------
Und nun? War das eine gute Idee? Hat er ihr gar verziehen oder hätte er sich lieber von jemand anderem zusammenkleben lassen sollen?
DU LIEST GERADE
Lieblingstag
Novela JuvenilInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...