Kapitel 9: Blau (3)

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Als ich in der Nacht nach Hause gekommen war- durchgefroren, müde und enttäuscht darüber, dass Inga wirklich verschwunden und auch nicht wieder aufgetaucht war- hatte ich sie zu einer Schnecke eingerollt im Bett gefunden. Sie hatte fest geschlafen, aber der Kater nach unserem Streit überwog das Bedürfnis, neben ihr ins Bett zu fallen. Ich war also duschen gegangen und hatte mich danach in unserem Wohnzimmer hingelegt, wo ich mich trotz schwerer Beine und schwerer Augenlider ruhelos hin- und herwarf und über das nachdachte, was zwischen Inga und mir an diesem Abend passiert war. Ink und ich stritten nicht oft – zumindest nicht ernsthaft. Wir konnten uns wegen der unbedeutendsten Nichtigkeiten in die Haare kriegen, aber die schlechte Stimmung verschwand danach fast immer so schnell, wie sie gekommen war. Es war noch nie vorgekommen, dass einer von uns alleine nach Hause gegangen oder alleine im Wohnzimmer geschlafen hatte. Normalerweise sprachen wir uns aus, bevor wir die Augen zumachten. Das war eine der wenigen Regeln, die wir uns auferlegt hatten, als wir zusammengezogen waren. Vielleicht wanderte deshalb mein Blick immer wieder zur Tür und vielleicht beschlich mich deswegen wiederholt der Gedanke, ich solle einfach zur ihr gehen. Gleichzeitig war ich verdammt sauer. Dieser Vorwurf, ich sei der Meinung, sie solle sich mit weniger zufrieden geben als ich, gab mir Gänsehaut vor Ärger. Das ganze Studium über hatten wir einander unterstützt. Wir hatten unsere Hausarbeiten Korrektur gelesen, Seminarvorträge kritisch Probe gehört und einander mit Kaffee und Zucker durch die Prüfungsphasen gebracht. Wir hatten als Team ziemlich gut funktioniert und das schon seit der ersten Prüfungsphase, seit Ink zum vermutlich ersten Mal in ihrem Leben ins Schleudern geraten war. Sie war damals kurz vor Ende der Vorlesungszeit krank geworden und hatte sich mit Bauchschmerzen ins Bett gelegt, um sich vor der anstrengenden Lernphase zu erholen von was auch immer ihr da zu schaffen machte. Sie hatte noch von Stress gesprochen, aber als ich mich spätabends neben sie gelegt hatte, war sie verdächtig warm gewesen und noch in der Nacht hatte sie angefangen sich zu übergeben. Am Morgen hatte sie geglüht und solche Bauchschmerzen gehabt, dass sie kaum noch hatte laufen können. In meiner Angst hatte ich sie ins Krankenhaus gefahren, was sie noch- wenn auch schneeweiß im Gesicht- als überzogen und unnötig abgetan hatte. Letztlich hatte man ihr aber noch am gleichen Tag ihren entzündeten Blinddarm entfernt und ich hatte ihre Eltern angerufen, ich hatte ihr ihre Krankenhaustasche gepackt und mich, als sie wieder zuhause gewesen war, um sie gekümmert. Ink, die Abhängigkeit und Hilflosigkeit kaum ertrug, war dabei fast durchgedreht. Schlimmer war eigentlich nur gewesen, wie die näher rückenden Prüfungen sie fast in die Verzweiflung getrieben hatten. Keine Woche war nach der Operation vergangen, als sie schon versucht hatte, ganze Tage am Schreibtisch zu sitzen und zu lernen. Wenn sie das nicht durchgehalten hatte, hatte sie sich fertig gemacht, bis Tränen geflossen waren. Dann hatte ich sie mit ihren Lehrbüchern ins Bett gesteckt, wo ihr nach wenigen Minuten die Lernunterlagen aus den Fingern rutschten und sie erschöpft eingeschlafen war. Am Ende hatte sie alle Prüfungen mitgeschrieben und bestanden. Es war ein erster Vorgeschmack darauf gewesen, wie hart Inga mit sich umgehen konnte, wenn sie etwas für notwendig hielt oder wenn sie ein Ziel vor Augen hatte. Gleichzeitig waren wir in dieser Zeit näher zusammengerückt als je zuvor. Ink, die zuvor immer die Stärkere von uns beiden gewesen war, hatte auf mich zurückfallen müssen, weil sie gar keine andere Chance gehabt hatte und danach waren wir ebenbürtiger gewesen als vorher, ein Team eben. Es war nicht länger wie zu Schulzeiten gewesen, als sie ihre Hand schützend über mich gehalten hatte- sie hatte sich nicht länger um mich gekümmert, sondern wir hatten aufeinander aufgepasst. Ich machte mir nichts vor und wusste, dass ich ohne Ink nicht so erfolgreich studiert hätte, wie ich es getan hatte und genau das war der Grund, weswegen mich so traf, was sie an diesem Abend zu mir gesagt hatte.



Als ich am Morgen davon aufwachte, dass in unserer Küche die Kaffeemaschine angeworfen worden war, war mein Rücken steif und mein Kopf schwer. Ich hatte kaum geschlafen, weil mir der Streit nicht aus dem Kopf gegangen war und ich keine Antwort darauf gefunden hatte, was ich zu Inga sagen wollte, wenn wir uns über den Weg liefen. Mein Bedürfnis, ihr zu sagen, was ich von diesem Drama am Vorabend hielt, war immer noch ziemlich groß. Das Daniel und Juan mir beide geschrieben hatten, ob Inga sich wieder beruhigt habe, machte es auch nicht besser. Alle hatten mitbekommen, wie sie weinend und alleine nach Hause gegangen war und die eine Hälfte unserer Freunde hatte darüber verständnislos den Kopf geschüttelt, während die andere Hälfte mich dafür verurteilt hatte, ihr nicht hinterhergegangen zu sein.

Ich blieb liegen, als es leise an der Wohnzimmertür klopfte. „Lukas?"

„Hm?" Mehr gab ich nicht von mir, weil ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich schon mit ihr reden wollte oder noch nicht.

Als Inga den Kopf zur Tür hineinsteckte, lächelte sie reumütig, als sie mich auf dem Sofa erblickte. „Hey."

„Hey.", murmelte ich zurück und zog mir die Decke bis zum Kinn. Ink sah müde aus, als sie zu mir kam und auffordernd auf meine Füße klopfte, bis ich sie anzog und ihr damit auf dem Sofa Platz machte.

„Sorry für gestern.", sagte sie ohne Umschweife und reichte mir ihren halbleeren Kaffeebecher. „Ich hätte nicht abhauen sollen gestern und ich weiß, dass du es gut gemeint hast."

Gut gemeint. Ich hatte diese Überraschungsparty tatsächlich gut gemeint. Ich hatte es gut gemeint, als ich ihr meinen Glücksbringer überlassen und vor dem Institut auf sie gewartet hatte. Als ich sie getröstet hatte und versucht hatte ihr zu erklären, dass ihre Abschlussnote kein Grund für Tränen war, hatte ich es auch mehr als gut gemeint. „Wusstest du das gestern auch schon oder hat Malin dir das auf dem Heimweg erklärt?"

„Ich wusste das auch gestern schon.", sagte Ink und schloss die Augen, als sie langsam ihren Kopf schüttelte. „Ich war einfach so enttäuscht, Luke, und ich hatte wirklich keine Lust, einen auf glücklich zu machen."

„Wegen der 1,7?" Die Frage mochte rhetorisch sein, aber ich kam trotzdem nicht darüber hinweg, dass sie deswegen die ganze Party gesprengt hatte und mitten in der Nacht abgehauen war.

„Auch." Ink zog die Schultern hoch und presste sichtlich unglücklich die Lippen zusammen.

„Auch?", hakte ich nach und setzte mich auf, um am Kaffee zu nippen.

„Es reicht nicht mehr, Luke.", sagte sie leise und ich sah, wie ihr augenblicklich Tränen in die Augen schossen. „Es reicht einfach nicht mehr."

„Was reicht nicht mehr?" Verständnislos musterte ich sie.

„Mein Schnitt ist zu schlecht für den Master an der FU. Es reicht einfach nicht mehr- wegen dieser 1,7."

Ich sah, wie sie die Luft anhielt und beeilte mich, den Kaffeebecher abzustellen. „Bist du sicher?"

„Ich kann immer noch rechnen, Luke.", brachte sie mühsam hervor und vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Es war vorher schon knapp, das wusste ich. Aber ich habe gedacht, wenn ich nur genug in diese Abschlussarbeit investiere, dann sei das immer noch eine sichere Sache. Falsch gedacht."

„Warum hast du nichts gesagt, Ink?", fragte ich fassungslos, schlug die Wolldecke zurück und zog Inga an mich, die sich, anders als am Vorabend, widerstandslos gegen mich sinken ließ.

„Weil du vor ein paar Tagen deine Bewerbung fertig gemacht hast und es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie angenommen wird."

„Als ob ich ohne dich gehen würde." Als ob ich ohne sie nach Berlin gewollt hätte. Ich hatte nur versucht, meinen Teil der Abmachung zu erfüllen, als ich mich für Wirtschaftsinformatik beworben hatte. Sie hatte Berlin damals meinetwegen aufgeschoben- und seitdem hatte nie ernsthaft in Frage gestanden, dass wir für den Master umziehen würden. Das wäre ich ihr schuldig gewesen, auch, wenn mich nichts von hier wegzog. Ganz sicher zog mich- außer ihr- nichts in die Hauptstadt. Mit keinem Wort hatte sie in den letzten Monaten mir gegenüber angedeutet, dass das mit Berlin eine knappe Kiste war und ich hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass es auf der Zielgeraden noch schief gehen könnte.

„Es geht aber nicht darum, ob du ohne mich gehst. Es geht darum, dass ich nicht mehr gehen kann." Sie rutschte an meiner Brust herunter und verbarg ihr Gesicht in meinem Schoß. „Ich habe es einfach nicht geschafft und ich habe noch nie etwas nicht geschafft.", murmelte sie gegen meinen Oberschenkel und ich vergrub meine Finger in ihren Locken und streichelte sie stumm, bis das Beben unter meinen Fingerspitzen und auf meinen Beinen nachließ. „Ich habe es einfach versaut, Luke- mit einem Halbsatz im Diskussionsteil.", schniefte sie schließlich leise und ich war fast erleichtert, als sie sich statt wegzulaufen in meine Berührung fallen ließ.

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