Kapitel 16: Haie (10)

65 13 10
                                    


Lukas

Ich trocknete noch das letzte Glas ab, als die Badezimmertür aufging. Ich warf einen Blick über meine Schulter und sah geradewegs Pia an, deren Augen immer noch rot und verquollen aussahen, mit Handtuchturban, in schwarzen Leggins und einem dunkelroten, dicken Kapuzenpulli, der ihr mindestens zwei Nummern zu groß war. Bevor ich sie unter die heiße Dusche befehligt hatte, hatte sie geredet und erzählt. In umgekehrter Reihenfolge zwar, aber immerhin. Sie hatte von ihrem Kommilitonen gesprochen, dem sie eine Bierdusche verpasst hatte und davon, dass sie sich scheinbar mehr mit ihm hatte vorstellen können als er mit ihr. Davon, dass sie ihm von ihrer Mutter erzählt hatten und davon, dass sie normalerweise nicht über sie sprach. Sie hatte mir gegenüber nicht ausholen müssen- ich hatte das verstanden. Als ich damals zum Studium weggegangen war, hatte ich auf Nachfrage von meiner Familie erzählt. Von meinen Geschwistern und meiner lebendigen, reitsportbegeisterten Familie im Allgemeinen. Ich hatte das Kapitel der mitleidigen Blicke abgeschlossen und über die Zeit hinweg selbst entschieden, wer erfuhr, dass die Geschichte eine zweite, tiefergehende Schicht hatte. Pia, die nur das Gleiche für sich versucht hatte, hatte damit bei der ersten Gelegenheit Schiffbruch erlitten. Zumindest befürchtete sie, dass längst der halbe Jahrgang Bescheid wusste und darüber mutmaßte, ob sie deswegen so wahnsinnig sei und Niklas mit Bier überschüttet habe. Selbst ich hatte die Reaktion erst nicht ganz verstanden und gebraucht, bis sie in zwei, drei kurzen Sätzen von einem Typen aus Hamburg erzählt hatte, den sie ein Jahr lang getroffen hatte und der nie wie versprochen seine Freundin für sie verlassen hatte. Sie hätte wohl niemandem buchstabieren müssen, wie verletzend es war, direkt ein zweites Mal frontal in eine solche Enttäuschung zu rennen.

„Besser?", fragte ich leise, bevor sie in ihrem Zimmer verschwinden konnte.

Sie blieb, die Hand an ihrem Türknauf liegend, stehen und nickte langsam. „Ja." Es klang noch immer verschnupft, aber immerhin waren ihre Wangen trocken. Während wir gesprochen hatten, hatte sie durchgeweint und es war offensichtlich gewesen, wie unangenehm ihr das gewesen war. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich der erste war, dem sie das erzählt hatte. Und ich befürchtete, auch der erste gewesen zu sein, vor dem sie über die kühle Arroganz ihrer Kommilitonen zusammengebrochen war. Sie hatte nicht nur Angst, sich verschätzt zu haben und das Studium nicht zu schaffen, sie hatte richtig Angst, in diesem Haifischbecken zu schwimmen und unterzugehen. Und wäre sie die erste gewesen, die mir das erzählt hätte, dann hätte ich nicht gewusst, wie berechtigt diese Tränen waren. Aber sie war eben nicht die erste Medizinstudentin, die ich darüber hatte reden hören, dass es nicht immer besonders kollegial zuging.

„Ich hole dir noch die Decke, ja? Sonst wird es eine ungemütliche Nacht.", flüsterte sie und versuchte sich an einem Lächeln.

Ich reckte nur den Daumen nach oben und sah ihr hinterher, als sie in ihrem Zimmer verschwand. Bevor sie völlig aufgelöst duschen gegangen war, hatte ich versucht, ihr das Versprechen abzuringen, wenigstens in den nächsten Tagen Kim oder Paul anzurufen und sie hatte genickt und mir versichert, das bestimmt zu tun. Ich hatte ihr keine Sekunde geglaubt. So, wie Pia wenige Augenblicke später beladen mit Decken und Kissen aus dem Zimmer kam und mich knapp und effektiv instruierte, wie ich das Sofa auszuklappen hatte, bestätigte sie mir den Eindruck, dass sie Dinge normalerweise alleine regelte. Vielleicht, weil sie es so gewohnt war. Vielleicht, weil es nicht anders funktioniert hätte.

„Es tut mir übrigens Leid, dass ich dich mit meinem Scheiß zugemüllt habe.", sagte sie passenderweise, als ich ihr nacheinander Kissen und Decke aus dem Arm nahm und auf das Sofa warf.

„Rede kein Blech."

„Ich kenne dich gar nicht und..." Sie zog die Schultern hoch und biss sich unglücklich auf die Unterlippe. „Du wolltest schlafen. Es ist mitten in der Nacht. Und ich habe dich mit diesem Mist wachgehalten, der für dich völlig egal ist und der mir peinlich ist und..." Sie ächzte und schüttelte den Kopf. „Sorry- zum hundertsten Mal heute."

„Ich habe gefragt und ich wollte das wissen. Keine Entschuldigung notwendig." Ich streckte ihr meine Hand hin und wartete, bis sie mit einem fragenden Blick danach griff. „Du hast gesagt, ich wäre quasi Familie. Also stresse dich nicht, okay?" Ich drückte ihre Hand, als sie zu Protest ansetzte und schüttelte den Kopf. „Was du mir erzählt hast, bleibt bei mir. Darauf hast du mein Wort. Aber rufe Kim an, okay? Lass sie herkommen, besuche sie, was auch immer. Sie hat eh Zeit. Sie ist deine Freundin und sie möchte bestimmt wissen, wie es dir wirklich geht. Versprochen?" Ich sah, wie sie mit sich rang, bevor sie schließlich, meinen Blick erwidernd, nickte.

„Fein.", sagte sie, widerwillig und ihre Augen, die immer noch gerötet waren, fingen wieder an gefährlich zu schimmern. „Mache ich." Sie schniefte leise und legte den Kopf in den Nacken, eindeutig, um ihre Augen am Überlaufen zu hindern. Als sie mich wieder ansah, schlossen sich ihre Finger unerwartet und fest um meine. „Du solltest schlafen. Sonst tauchst du morgen verkatert und zerstört bei der nächsten WG auf und die denken dann, du feierst rund um die Uhr und bist nervig oder so. Der Wohnungsmarkt ist umkämpft. Du solltest also wirklich die Augen zu machen."

Wäre ich nicht zu müde gewesen, um wirklich überrascht zu sein, hätte ich aufgelacht. So nickte ich nur bestätigend. „Zähneputzen und Schlafen. So war ja auch der ursprüngliche Plan."

„Ja."

Ich registrierte, dass unsere Finger immer noch miteinander verhakt waren und machte eine Kopfbewegung in Richtung unserer Hände. „Du musst mich loslassen, bevor ich ins Bad gehen kann, Pia."

„Ja. Klar. Stimmt." Sie nickte, während sie meinen Blick erwiderte. „Wenn es dir zu wuselig wird, wenn die anderen aufstehen, wenn die Krach machen oder so...ich kann mich kleinmachen."

„Wird schon gehen. Ich bin optimistisch."

„Okay." Mit den Worten ließ sie meine Hand abrupt los und winkte flüchtig. „Schlaf gut." Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand in ihrem Zimmer, während ich mich rückwärts auf das Sofa fallen ließ und mich fragte, was ich mit den letzten Sekunden anfangen sollte. Ich kann mich kleinmachen. Ich war mir nicht sicher, ob ich überinterpretierte, ob Pia einfach nett war, ob sie überfürsorglich war, ob sie einfach schon wusste, dass ihre Mitbewohner in wenigen Stunden die nächste, ausgiebige Kochaktion starten würden- oder ob sie mir gerade ernsthaft angeboten hatte, bei ihr zu übernachten. Aus Gründen. Das ginge so gar nicht und wäre aus so vielen Gründen eine unerträglich schlechte Idee. Beinahe schlaftrunken riss ich mich von dem Gedanken los, holte meine Zahnbürste aus der Reisetasche und schlich möglichst leise ins Bad, wo ich endlich dazu kam, mir Wasser durchs Gesicht zu spritzen und meine Zähne zu putzen. Ich war kaputt. Kaputt mit Restalkohol im Blut und beschwert von Pias grauenhaftem Semesterstart. Und so fielen meine Augen zu, kaum dass ich mich auf dem ausgeklappten Küchensofa eingerollt hatte und mir die Decke bis an die Nasenspitze gezogen hatte. Von den verwirrten Nervenenden in meinem Handrücken, die ziel- und zwecklos tausend aufgeregte kleine Impulse durch meine Haut schickten, bekam ich nichts mehr mit. 


-----

Da schläft er. Friedlich. Mit der Decke bis unter die Nasenspitze gezogen. Guter Lukas, oder?

LieblingstagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt