Wir hielten unter der Straßenlaterne vor dem Haus von Ingas Eltern und in ihrem Licht erkannte auch ich, dass ihre Wimperntusche den Abend nicht unbeschadet überstanden hatte. „Abgeliefert. Ich glaube, du wirst erwartet.", sagte ich mit Blick auf das hell erleuchtete Wohnzimmer ihrer Eltern.
Sie nickte, warf einen verstohlenen Blick in Richtung des Fensters und steckte sich eine dicke Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Die warten immer. Bisschen ätzend."
„Ja, kenne ich.", erwiderte ich mit dem Gedanken daran, dass ich mittlerweile hoffnungslos zu spät war.
„Die sind so stressig manchmal.", murrte sie. Wie zur Bestätigung erschien der Kopf von Ingas Vater am Fenster. Sie ächzte, als er ihr zuwinkte und wandte sich wieder mir zu. „Sage ich ja: stressig."
„Besser stressig als nicht mehr da.", sagte ich leise. „ Ganz im Ernst."
„Ja, wahrscheinlich.", sagte sie gedehnt und warf mir einen forschenden Blick zu. „Ich trenne mich von Nils.", sagte sie dann für mich vollkommen unvermittelt.
„Oh." Sprachlos starrte ich sie an. Jetzt, im Sommer, hatte sie helle Sommersprossen auf ihrer Nase. Es waren zu viele, um sie zu zählen. Winzige, kleine Pünktchen. Ich blinzelte, als ich merkte, wie ich starrte. „Okay." Ich schluckte, als ich sah, wie sie ihre Nase kräuselte. Falsche Antwort, Lukas. „Das tut mir Leid.", schob ich hölzern hinterher, weil ich ziemlich sicher war, dass sie sowas hören wollte. „Bist du okay?" Ich hoffte sehr, dass man Mädchen sowas fragte. Ihre Nase kräuselte sich noch ein bisschen mehr.
„Ich bin sehr okay.", sagte sie dann und legte den Kopf schief. „Ich bin nicht so...so sentimental bei sowas."
Nicht so sentimental bei sowas? „Aha.", machte ich ratlos. Was hieß das? War sie gefühllos? War das ein Scherz? „Das ist dann gut für dich, oder?"
„Schätze ich mal, ja.", sagte sie, grinste und warf einen kurzen Blick Richtung Wohnzimmerfenster. „Danke fürs Herbringen. Und fürs Händchenhalten hinter Cortaderia selloana."
„Hinter was?"
„Pampasgras, Zitronengras, wie du willst." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, umarmte mich und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Mein Puls hängte sich kurz auf, bevor er losraste. Meine Haut brannte, während ich gleichzeitig erstarrte. „Danke fürs Heimbringen, Lukas."
„Bitte.", flüsterte ich, weil ich mir sicher war, dass meine Stimme mich im Stich lassen würde. Sie hatte mich auf die Wange geküsst. Verwirrt schüttelte ich den Kopf und versuchte tief durchzuatmen. „Habe einen schönen Sommer, Ink."
„Wir sehen uns im Herbst, Faxi." Sie hob ihre Hand und strich mir flüchtig über die Wange. „Und falle nicht vom Pferd. Das wäre unter Umständen echt scheiße."
„Ja, kann schmerzhaft sein." Meine Stimme klang seltsam hohl in meinen eigenen Ohren, während mein Blutstrom außer Kontrolle geriet und mein Gesicht sich dank Sauerstoffmangel wie von Prickelnadeln gestochen anfühlte.
„Das auch." Sie sah seltsam amüsiert aus, als sich umdrehte und mir einen letzten Blick über die Schulter zuwarf. „Schlaf gut. Und komm gut heim."
So leise wie möglich zog ich im Flur meine Schuhe aus und tapste in Zeitlupe und auf Zehenspitzen durch den Flur. Im Wohnzimmer war alles still, aber eine gedimmte Lampe brannte noch. Wenn ich Glück hatte, hatten sie nur vergessen, sie auszuschalten, bevor sie ins Bett gegangen waren. Wenn ich Glück hatte, dann musste ich nicht erzählen, dass...
„Lukas!" Felix tauchte hinter der Sofalehne auf und strahlte mich an.
„Shhht!" Ich hielt meinen Finger warnend an meine Lippen, aber Felix winkte begeistert und mit vollem Körpereinsatz, bis ich ein leises Aufstöhnen.
„Stampfe mich nicht tot, Felix.", hörte ich ein unwilliges Brummen, dann ein Rascheln und dann tauchte Sina wie Felix hinter der Sofalehne auf. Ihre Haare standen wild in alle Richtungen ab und sie wirkte ziemlich desorientiert, als sie mich erkannte.
„Hey.", machte ich lahm. Erwischt. „Ich hoffe, du hast nicht auf mich gewartet."
„Habe ich schon." Sie streckte sich und zog sich das Haargummi aus den Haaren, bevor sie seufzend wieder aufs Sofa zurücksank und damit aus meinem Blickfeld verschwand. „War aber schlecht darin, wie du siehst. Verpetze mich nicht. Wie spät ist es?"
„Muss ich das sagen?", fragte ich und umrundete das Sofa, bis ich sie ansehen konnte. Sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und der Zwerg ließ sich unsanft auf sie fallen.
„Mache mich nicht kaputt.", murmelte sie und umarmte Felix so fest, dass er seine Zappelei einstellen musste. „Schlafe doch einfach." Sie klappte ein Auge auf und sah mich an. „Im Ernst- wie spät haben wir?"
„Eventuell eins." Schuldbewusst zog ich die Schultern hoch. „Tut mir Leid."
„Hast du geknutscht?", fragte sie gleichermaßen ungerührt und unvermittelt.
„Spinnst du?" Entgeistert riss ich meine Augen auf und die Stelle auf meiner Wange, die Ingas Lippen berührt hatten, brannte wie Teufel. Vermutlich leuchtete sie scharlachrot und verräterisch.
„Du strahlst so." Sie klappte ihr Auge wieder zu und Felix wand sich aus ihrer Umklammerung, um mich anzusehen.
„Was ist Knutschen, Mama?", fragte er und betrachtete mich wie ein Forschungsobjekt, während mir abwechselnd heiß und kalt wurde. Wieso konnte Sina, die vermutlich vor Müdigkeit nur noch Schatten sah, sehen ob ich strahlte oder nicht? Und sah man ernsthaft, dass meine Körpertemperatur vermutlich um zehn Grad angestiegen war?
„Das erzähle ich dir morgen früh, wenn du jetzt lieb deine Augen zumachst.", flüsterte sie und tätschelte ihm blind den Kopf. „Das ist super spannend. Das darfst du nicht verpassen." Sie sah vollkommen zerstört aus und ich dankte ihm insgeheim dafür, dass er Sina so müde gespielt hatte, dass sie kaum zu realisieren schien, dass ich zwei Stunden später als vereinbart in der Wohnung stand. „Ob geknutscht oder nicht- schlafe gut, Lukas.", murmelte sie und hob die Hand. „Wir reden beim Frühstück, ja?"
„Sicher.", sagte ich und schwor mir, bis zum Mittagessen im Bett zu bleiben.
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Ob Lukas Pluspunkte damit gesammelt hat, dass er Inga nach Hause gebracht hat? Und hat Inga jetzt bei euch Pluspunkte gesammelt? ;)
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Lieblingstag
Teen FictionInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...