Berlin-Spandau
Vor mir griff das offensichtliche Hauptstadtmädchen nach ihrer Jeansjacke und stopfte sie in ihren Jutebeutel. Von der Vorfreude darauf, wieder in ihrem natürlichen Habitat unterwegs zu sein, war wenig zu sehen. Stattdessen zuckte sie genervt mit ihrer Nase, als sie meinen Blick bemerkte und fegte damit den Rest meiner Neutralität beiseite. Ich mochte sie nicht und ich konnte nicht erwarten, in wenigen Minuten ihr Gesicht vergessen zu können. In wenigen Minuten würde dieser hoffnungslos verspätete ICE am Hauptbahnhof halten. Mein Mund wurde trocken, während auch ich meine Sachen zusammenpackte und meinen Rucksack von der Gepäckablage zog. Fahrig spielte ich danach mit meinem Handy herum, bis es mir fast aus der Hand geglitten wäre. Als mich daraufhin der vernichtende Blick von Gegenüber traf, stand ich auf, schulterte meinen Rucksack, steckte mein Handy in die Hosentasche und ging zur Tür. Ich hielt dieses kleine Mädchen nicht aus. Nicht jetzt, nicht Minuten von diesem Anruf entfernt. Und dann? Wenn es richtig mies lief, würde ich direkt mein Ticket für die Rückfahrt buchen. Und wenn nicht? Was dann? Ingas Skizzenbuch in meinem Rucksack wurde bei dem Gedanken so schwer, dass ich meine Schultern straffte und gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfte, die nichts mit dem Hin- und Herschwanken des Zuges zu tun hatte. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken, bei dem Gedanken, plötzlich wieder vor ihr zu stehen. Gott, ich vermisste sie. Ich vermisste Ink mehr, als ich mir in den letzten Monaten eingestanden hatte und ich verstand, noch während ich auf die geschlossenen Türen des Zuges starrte, dass ich nicht hier sein sollte. Sie war fantastisch. Sie hatte diesen Typen. Sie lebte mit ihm zusammen. Sie hatte nicht nach mir gefragt. Sie hatte einfach nur einen Bären gemalt. Aus Nostalgie vielleicht. Any day spent with you is my favourite day. Dieser dumme, kleine, gelbe Bär... Ich musste die Luft fast gewaltsam aus meinen Lungen drücken, um Luft zu bekommen und strich mir angespannt meine viel zu langen Haare zurück. Ich würde sie einfach anrufen, ihr das Buch bringen und einen Kaffee trinken. Und dann würde ich heimfahren. Ich würde den Gedanken an uns abschütteln und weitermachen wie bisher, ich würde dieses verdammt laute Gerausche in meinen Ohren abstellen und sein wie davor, wie in den letzten Monaten. Es war eine schlechte Idee, aber jetzt war ich eben hier. Der Zug wurde langsamer und mehr und mehr Fahrgäste drängelten sich im Flurbereich herum, rempelten sich, mich, mit ihren Koffern und Taschen an. Ich wollte raus. Ich wollte Inga sehen, sie umarmen und mit meinen Fingern durch diese fantastischen roten Haare kämmen, wie immer, wie früher. Und genau das war eine furchtbar miese Idee.
Osterferien, 10 Jahre zuvor
Respekterfüllt stand ich vor dem Schlussoxer aus blau-weißen Stangen. Das war hoch- für mich. Für Galina sicherlich weniger. Trotzdem atmete ich ein zweites Mal tief durch, bevor ich nickte und gewohnheitsmäßig auf die Stange klopfte. Irgendwie bildete ich mir ein, dass das Glück brachte.
„Wieso bist du so lahm, Lukas?"
Wäre ich weniger nervös gewesen, hätte ich die Augen verdreht. So starrte ich nur auf Kim herab, die breit grinsend neben mir stand und einmal fachmännisch an der Stange rüttelte.
„Wieso bist du so eine Plage?", murmelte ich und sah auf sie herab.
„Wieso bist du so ein Schisser?" Sie streckte mir die Zunge heraus und tänzelte begeistert und sichtlich voller Vorfreude aus dem Parcours. Ich fühlte mich jetzt schon von ihr gedemütigt. Sie hatte- nur mal zum Ausprobieren natürlich- eins der alten Turnierpferde dabei und hatte vor, dasselbe L-Springen zu reiten wie ich. Sie war gerade elf und reichte mir ungefähr bis zur Schulter, was ungefähr alles über sie aussagte und vielleicht auch ein bisschen über mich. Das A-Springen am Morgen hatte sie jedenfalls mit ihrem Pony gewonnen. Sina war begeistert gewesen und Julian stocksauer. „Wenn Lina nicht der Tausendfüßler wäre, der sie ist, hättest du dich langgemacht. Ist dir das eigentlich klar?", hatte er sie wütend angefaucht, aber ich war mir sicher, dass sie das nur weiter angespornt hatte. Zumindest hatte sie beim Abreiten auf dem schlanken Fuchs, der viel zu riesig für sie war, ein breites Dauergrinsen auf dem Gesicht. Ich suchte beim Abreiten wieder und wieder mit meinem Blick die Umzäunung des Abreiteplatzes und hielt Ausschau nach leuchtend roten Locken. Inga hatte versprochen herzukommen. Als ich ihr damit in den Ohren gelegen hatte, dass ich mir vermutlich den Hals brechen würde, hatte sie sich dazu durchgerungen, mir zuzusehen. Zumindest, wenn sie auf dem Weg zum Springplatz nicht von einem Pferd angegriffen werden sollte. Außerdem würde sie danach mit uns nach Hause fahren. Mein Magen verknotete sich ungleich viel fester als eben beim Anblick der hoch hängenden Stangen und ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich lebend aus dem Parcours kommen wollte. Sie hatte Julian umgarnt, wobei umgarnen das falsche Wort war. Sie hatte ihn vor zwei Wochen sehr direkt gefragt, ob sie nicht doch bei uns übernachten dürfe. Er hatte nicht weniger direkt abgelehnt und ich war kalkbleich geworden. Und dann hatte sie Julian überzeugt, während ich schweigend daneben gesessen und angestrengt versucht hatte, im Boden zu versinken. Sie hatte ihm unverblümt ins Gesicht gesagt, dass wir auch nachmittags miteinander schlafen könnten, wenn wir denn wollten. Sie hatte extrem unverfroren hinterhergeschoben, dass Tageslicht auf die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft keinen Einfluss hatte. Und dann hatte sie ihm ohne rot zu werden erklärt, dass sie wusste, wie man Kondome benutzte. Ich war unterdessen fast gestorben, aber Julian hatte nach einem kurzen Schreckmoment gelacht -und zugestimmt. Seitdem waren die beiden ein Herz und eine Seele, was ich mir nach dem Start in dieses Jahr nicht hätte träumen lassen. Wobei ich auch das korrigieren musste: ich hätte mir nach dem Start ins Jahr nicht träumen lassen, dass Inga mich je wieder ansehen würde. Sie hatte am zweiten Januar unangekündigt, aufgelöst und beängstigend wütend vor mir gestanden und keinen Zweifel daran gelassen, dass sie es quasi unverzeihlich fand, wie ich sie am Vorabend abgewürgt hatte. Das hatte sie mir so lautstark mitgeteilt, dass Julian mir, nachdem sie wutschnaubend gegangen war, schadenfroh feixend zu meiner unkomplizierten Freundin gratuliert hatte. Umso unglaublicher war es, dass es seitdem unkompliziert war und ich konnte ehrlicherweise nach wie vor nicht genug von den Momenten bekommen, in denen sie ganz selbstverständlich ihre Finger mit meinen verhakte und damit der Welt und mir zeigte, das wir zusammengehörten.
Ich schrak zusammen, als ich einen mir gut bekannten Pfiff hörte und sah zu Julian herüber, der auf die Uhr an seinem Handgelenk deutete. „Zweiter und dritter Gang, Lukas! Nicht träumen!", rief er just in dem Moment, als Kim an mir vorbeigaloppierte. Die träumte garantiert nicht. Ich ließ meinen Blick ein letztes Mal über die Menschen und Pferde schweifen und nahm just in dem Augenblick die Arbeit mit Galina auf, in dem ein roter Haarschopf hinter einem Anhänger auftauchte.
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Tja, Kim hat wohl 'ne andere Arbeitsmoral als Lukas 😂
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Lieblingstag
Teen FictionInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...