Als ich am nächsten Morgen meine Augen aufschlug, lag Inks Stirn an meiner Schulter und ihre Hand lag schwer auf meinem Bauch. Sie schlief- tief und fest- während die Sonne ihr ins Gesicht schien. Mein Anzug hing über meinem Schreibtischstuhl, ihr Kleid lag darüber. Unsere Schuhe, die wir uns im Morgengrauen achtlos von den Füßen gestreift hatten, lagen direkt hinter meiner Zimmertür. Mein Portemonnaie lag auf dem Schreibtisch und ein Glas Wasser stand unangetastet neben dem Bett. Ich registrierte meinen trockenen Mund, kaum, dass ich es entdeckt hatte, aber es war aussichtlos weit weg. Ich hätte Ink wecken müssen- oder zumindest riskieren müssen, sie aufzuwecken. Und danach war mir nicht. Nicht nach gestern. Das flaue Gefühl in meinem Magen hätte ein echter Kater sein können- aber es war ein Kater der anderen Art. Ein Kater von zu viel angespanntem Lächeln und pseudo-heiler Welt. Meine Gesichtsmuskeln hatten sich irgendwann am gestrigen Abend, in der gestrigen Nacht so angestrengt angefühlt wie selten zuvor. Nachdem Ink und ich gesprochen hatten. Gesprochen hieß, dass Ink hatte mir mit einer Trennung gedroht hatte. Auf der Hochzeit ihres Bruders und auf den Stufen ihres Elternhauses. Beim Sonnenuntergang. Und danach hatte ich lächeln müssen. Für die Erinnerungsfotos. Für Niko und Wanda. Für Ingas Eltern. Und für Inga, die mir die Pistole auf die Brust gesetzt hatte und die- nachdem ich ehrlich schockiert versichert hatte, in Zukunft präsenter, wacher zu sein, bemühter sein zu wollen- scheinbar erwartet hatte, dass ich diese Drohung einfach wegwischte. Als hätte sie mir nicht die Angst tief in die Knochen gejagt. Als hätten wir über die Farbe der Inneneinrichtung gestritten. Blau oder grün. Holz oder glatte, cleane Oberflächen. Stattdessen hatten wir über Trennung oder Veränderung gesprochen. Sie hatte mir unmissverständlich klar gemacht, dass sie mein Verhalten in den letzten Monaten so ätzend gefunden hatte, dass sie an diesem Abend nicht zum ersten Mal daran gedacht hatte, dass es für sie so nicht weiterging. Und als ich sie- ernsthaft sauer- gefragt hatte, wieso sie das dann nicht eher angesprochen hatte, hatte sie sich mit einem einzigen kühlen Halbsatz erklärt: Weil du ja schon gestresst genug bist die ganze Zeit.
Ich hatte dem nichts entgegenzusetzen gehabt, denn irgendwo hatte sie recht: in den letzten Monaten war ich müde. Ich verpennte regelmäßig den halben Samstag und ich verstand, dass sie das verletzte. Ich verstand, dass ihre Vorstellung von gemeinsamer Zeit nicht war, mir beim Schlafen zuzusehen. Ich verstand auch, dass es sie nervte, dass ich ständig von meinem Algorithmus redete- und zu wenig mit ihr. Das sie sich missachtet fühlte, wenn ich abends in Jogginghose mit ihr Filme schaute war, mir allerdings neu- und unverständlich. Auf meine- zugegebenermaßen- provokante Frage, ob ich mich im Anzug auf unser Sofa setzen sollte, hatte sie nur missbilligend die Augenbraue gehoben. Sie wollte mehr. Mehr von uns. Mehr von uns, wie es früher gewesen war. Mehr Zeit und mehr Abenteuer. Sie wollte nach dem Master mit mir in Nepal wandern- und ich hatte es nicht über mich gebracht zu sagen, dass ich wegen des verlängerten Praktikums niemals zeitgleich mit ihr fertig werden würde. Stattdessen hatte ich genickt und zugestimmt- dem neuen Abenteuer. Und wenn es hieß, dass ich meinen Master nochmal verlängern musste. Ich war bereit, das zu tun. Für sie und für uns. Auch, wenn alleine die Erinnerung an ihre Unfähigkeit, die Zähne einmal auseinander zu bekommen, bevor es zu Streit kam, genau in diesem Moment eine dumpfe Ratlosigkeit in mir auslöste, getoppt von einem großen Klecks Ärger. Bei aller Liebe- ich war es leid, von anderen zu erfahren, dass meine Freundin mir etwas zu sagen hatte.
Sie brummte leise gegen meine Schulter und atmete tief ein, bevor sie sich verschlafen streckte. „Lu?"
„Hm?", machte ich und schluckte Ratlosigkeit und Ärger mühsam gemeinsam herunter. Beides kratzte ziemlich fies in meinem Hals.
„Gestern ist alles gut gegangen, oder?"
„Auf der Feier?", antwortete ich automatisch und widerstand dem Impuls, mich einfach umzudrehen und weiterzuschlafen.
„Ja. Das war gut, oder? Wir haben es nicht versaut, oder?"
Ich seufzte und schloss die Augen, bevor ich meinem Bedürfnis doch nachgab und mich zur Wand drehte. „Wir haben es nicht versaut. Niko hatte eine tolle Feier und schöne Bilder.
„Dann ist ja gut." Sie seufzte leise und drehte sich, bis sie sich an meinen Rücken schmiegte und ihre Arme um mich schlang. Ich spürte, wie sie ihren Kopf zwischen meine Schulterblätter schmiegte. „Bist du auch so verkatert wie ich?"
„Ja."
„Dann war die Party gut.", murmelte sie zufrieden gegen meine nackte Haut. „Dann war die Party wirklich gut." Sie rang mir noch das Versprechen ab, die Pferde Pferde sein zu lassen und mit ihr liegen zu bleiben, was ich tat. Weil ich- egal wie wütend ich auch war- wollte, dass das mit uns funktionierte. Und weil ich ihr mehr von uns geben wollte. Also blieb ich im Bett. Ich blieb liegen, während vor meiner Zimmertür das Mittagessen gekocht wurde und verschwand gemeinsam mit Ink im Bad, als der Rest der Familie danach wieder in den Stall ging. Ich überzeugte Ink davon, wenigstens noch kurz gemeinsam Julian und Sina von der Feier zu erzählen, bevor ich sie am späten Nachmittag bei ihren Eltern absetzte. Ich hatte Galina nicht gesehen, ich hatte Lugar nicht gesehen und ich hatte kaum drei Sätze mit Felix gewechselt. Mein Kopf brummte schmerzhaft und laut, als ich mich nach einer knappen Stunde verabschiedete. Ich musste nach Frankfurt- und in erster Linie musste ich einfach weg. Ich brauchte meine Ruhe. Ich musste dringend alleine verpacken, dass meine Freundin mir auf der Hochzeit ihres Bruders angedroht hatte, mich zu verlassen- und nun so tat, als sei alles in Ordnung.
„Jetzt schon?", fragte Ink leise, als sie mich zur Haustür begleitete. „Wirklich? Wir sind gerade erst hier."
„Wir waren das ganze Wochenende hier. Außerdem dauert die Fahrt ewig.", sagte ich und bemühte mich um ein kläglich scheiterndes, entschuldigendes Lächeln. „Tut mir Leid."
„Wie du meinst." Sie zog die Schultern hoch.
„Ich bin wirklich müde, Inga.", erwiderte ich und bückte mich, um mir die Schuhe zuzubinden. „Nächstes Mal bleibe ich länger."
„Wolltest du nicht nächstes Wochenende die Ponys besuchen?" Ihr flapsiger Tonfall und das Wort „Ponys" erforderten eine Menge Selbstbeherrschung.
„Übernächstes Wochenende erst."
„Hm..." Sie seufzte und beobachtete, wie ich mich aufrichtete. Ihre verschränkten Arme und ihr kritischer Blick waren zu herausfordernd.
„Ich besuche dann übrigens keine Ponys, sondern meine Familie. Okay?"
„Okay." Inga schnaubte und verdrehte die Augen. „Du weißt genau, dass ich deine Familie meine, wenn ich von den Ponys spreche."
„Es sind aber keine Ponys. Es ist meine Familie. Spare dir den Pony-Scheiß."
„Das ist ein Scherz, Lukas."
„Ich lache aber nicht. Ich spreche auch nicht davon, dass wir zu den Gärtnern fahren, wenn wir herkommen." Und das wäre ziemlich treffend gewesen.
„Fein. Dann besuchst du eben deine Familie übernächstes Wochenende. Okay. Ich habe es verstanden."
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Autsch. Hat sie es verstanden? Und hat er sie verstanden? all good things come to an end oder wie?
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Lieblingstag
Teen FictionInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...