Kapitel 3: Spannungsüberschlag & Funkenflug (2)

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Wie üblich parkte ich mein Fahrrad neben dem Stall. Ich hatte keine Ahnung wieso, aber entweder das Fruchtgummi in meinem Rucksack oder das zuckerfreie Vollkornbrot mussten eine berauschende Wirkung auf mich haben. Ich grinste stumm in mich hinein bei dem Gedanken, schloss das Fahrrad ab und ging zum Haus herüber. Mein Magen knurrte leise. Hoffentlich gab es heute nur einmal pünktlich Mittagessen. Nudelauflauf, Pfannkuchen, meinetwegen Brokkoli- mir wäre alles recht gewesen. Ich hatte einfach Hunger. An Julians Geländewagen, der mit offenem Kofferraum vor der Haustür geparkt war, ging ich vorbei ohne groß Notiz davon zu nehmen. Wenn Julian oder Sina einkaufen gingen, stand der regelmäßig exakt so vorm Haus. Die Reisetasche darin übersah ich. Ich stieß die Haustür auf, die tagsüber nie abgeschlossen war, und ging wie gewohnt das Treppenhaus zur Wohnung hoch. Ich wollte schon in meiner Jackentasche nach dem Schlüssel kramen, als ich sah, dass die Tür offen stand. Nicht ungewöhnlich, wenn gerade Einkäufe ausgeladen wurden. Ich pfiff leise und strich meine Schuhe wie gewohnt an der Wohnungstür ab. Wenn Sina eins hasste, dann war es Dreck. Mehr hasste sie nur, den Dreck wegzumachen. Ich schnupperte, stellte enttäuscht fest, dass ich kein fertiges Essen roch und versuchte mich mit dem Gedanken an Joghurt und Brot zu trösten. Du musst nicht hungern, also stelle dich nicht an, dachte ich bei mir und trat ins Wohnzimmer. Und dort erstarrte ich. Kim trug mit schneeweißem verquollenem Gesicht und roten Augen Klamotten aus ihrem Zimmer und warf sie in einen großen, geöffneten Koffer. Sie schrie nicht herum, sie machte kein Theater, sie sagte kein Wort. Sie weinte sogar lautlos. Ihr flossen die Tränen unaufhaltsam übers Gesicht und tropften über ihr Kinn auf ihren Pullover, während sie planlos ihre Sachen packte.

Kim?", fragte ich leise und ging vor ihr in die Knie. Sie schniefte nur und wollte sich umdrehen und mehr Klamotten aus ihrem Zimmer holen, aber ich packte sie am Handgelenk und hielt sie fest. „Hast du Stress mit Julian und Sina?" Ich hatte als Kind nach einem Streit mit meinem Vater auch einmal wutentbrannt meine Sachen gepackt und gehen wollen. Damals war ich ganze fünfzig Meter weit gekommen- bis zum Ende der Hofeinfahrt- wo ich mich auf meinen Kinderkoffer gesetzt und gewartet hatte. Mein Vater hatte mich und meinen Koffer eine halbe Stunde später kommentarlos mit dem Aufsitzrasenmäher abgeholt. Wir hatten dann gemeinsam Rasen gemäht, bis das Abendessen fertig gewesen war und nie mehr über mein kleines Abenteuer gesprochen. Vielleicht sollte ich sie packen lassen und Julian oder Sina Bescheid geben, damit sie einen ähnlich pragmatischen Versöhnungsversuch starten konnten wie mein Vater damals. Aber sie so schüttelte heftig den Kopf, dass ihre blonden Haare flogen.

„Du musst auch packen.", sagte sie mit erstickter Stimme. „Wir ziehen aus."

Was? „Wieso sollten wir ausziehen?", fragte ich und Ärger keimte in mir auf. Nicht lustig, Kim. Auf so viel mehr Ebenen nicht lustig als du dir mit deinem begrenzten Verstand vorstellen kannst.

„Weil Mama und Papa sich hassen.", flüsterte sie und jaulte auf wie ein getretener Hund, bevor sie sich losriss und in ihr Zimmer rannte. Ihre Tür flog mit einem Donnern hinter ihr zu, dass in meinen Ohren nachhallte und gleichzeitig hörte ich sie in einer Verzweiflung schreien und weinen, die mir innerhalb eines Sekundenbruchteils den Schweiß auf die Stirn trieb und mich an jenen Tag zurückversetzte, an dem mein Leben eine jähe Wendung genommen hatte und an dem ich- wie Kim in diesem Moment- hatte erkennen müssen, dass das mit der Kontrolle über das eigene Leben nichts als eine nette Illusion war. Fuck. Mein Mund war staubtrocken, während ich vor Kims halbherzig gepacktem Koffer kniete und der Rucksack auf meinem Rücken mich langsam immer tiefer zog. Das konnte nicht wahr sein. Kim musste das falsch verstanden haben. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und taumelte in mein Zimmer. Wo war Julian? Wo war Sina? Wo war Felix? Wenn an dem, was Kim sagte, irgendetwas dran war, wo waren die anderen dann? Und wenn Kim ihre Koffer packte, mit wem ging sie dann? Wer zog aus? Sina oder Julian? Und was wäre mit mir? Wann war das beschlossen worden? Ich spürte meinen Puls hochschnellen, als ich in meinem Zimmer den Rucksack von meinem Rücken gleiten ließ und mich wie gelähmt auf meine Bettkante setzte. Ich wollte nicht weg. Ich wollte aus diesem Zimmer nicht weg, nicht mehr. Ich wollte von den Ponys nicht weg. Ich wollte von der Schule nicht weg, nicht jetzt. Nicht nachdem die Katze aus dem Sack war und es trotzdem noch halbwegs lief. Unwillkürlich krampfte ich meine Finger in die Bettdecke und starrte aus dem Fenster. Das Jugendamt würde mich holen. Wenn ich auch nicht sofort würde gehen müssen, dann spätestens wenn das Jugendamt von der Trennung erfuhr. In dem Moment fingen meine Knie unkontrolliert an zu zittern. Das war nicht fair. Ich hatte nichts falsch gemacht. Oder? Kim brüllte immer noch so laut, dass ich sie durch zwei geschlossene Türen hindurch hören konnte. Sie drehte durch. Sie drehte gerade völlig durch. Und ich konnte und wollte ihr nicht helfen. Sie musste das falsch verstanden haben. An diese Hoffnung klammerte ich mich, während ich auf meiner Bettkante kauerte. Gleichzeitig war ich nicht blind und nicht taub. Seit ich vor Weihnachten eingezogen war, bekam ich mit, wie es regelmäßig knallte. Laut, heftig und zunehmend böse. Ich hatte das weggeschoben, mir eingeredet, dass das eben so war und bestimmt schon immer so gewesen war. Gleichzeitig hatte ich gemerkt, wie der Boden oberhalb der vulkanischen Daueraktivität heißer und heißer geworden war. Es hatte ständig gekracht in den letzten Wochen. Manchmal so laut, dass ich nachts Wortfetzen der Unterhaltung hatte mithören können. Manchmal hatte Julian auf dem Sofa geschlafen, manchmal Sina in Felix Zimmer. Und dann die Ruhe, wenn Sina mit den Pferden übers Wochenende wegfuhr und die Temperatur sich mit einem Schlag auf ein erträgliches Maß abkühlte, sobald der Transporter vom Hof rollte. Es ging um Prioritäten, um Turniere, um die WM, die Sina so unbedingt reiten wollte. Es ging um das richtige Maß. Erst vor ein paar Abenden hatte Sina Julian nachts so laut angebrüllt, dass Felix davon aufgewacht war und ich jedes Wort hatte mithören können. Sie habe ein Jahr nach Felix' Geburt für die Familie geopfert und Julian würde sie nicht dabei unterstützen, wieder in den Sport zurückzufinden. Für ihn käme es doch gerade recht, wenn sie für immer die liebende Hausfrau und Mutter bleiben müsste. Und er hatte zurückgebrüllt, außer sich und heiser, dass es alles über sie aussagen würde, wenn sie das Jahr Familienauszeit als großes Opfer betrachtete. Je öfter ich diese Szenen in meinem Kopf durchging, desto mehr sickerte zu mir durch, dass Kim vermutlich nichts falsch verstanden hatte und das Julians Auto nicht mit offenem Kofferraum vor der Haustür stand, weil er Einkäufe einräumte. Er würde gehen. Und er würde Kim mitnehmen. Und Felix? Und ich? Kim kreischte mittlerweile so außer sich, dass ihre Stimme sich überschlug. Sie würde sich noch so in Rage schreien, dass sie einen Herzinfarkt kriegte. Wirklich. Ich dachte nicht groß darüber nach, als ich auf wackeligen Beinen aufstand, mein Zimmer verließ, zu ihr ging und eine glühende, feuerrote und nach Luft schnappende Kim kommentarlos und gegen ihren Widerstand in eine feste Umarmung zog und sie daran hinderte, den Rest ihres Zimmers in Schutt und Asche zu legen.

„Höre auf, Kim.", flüsterte ich eindringlich, während sie immer noch brüllte, um sich schlug und ihre Tränen und ihr Rotz mein T-Shirt durchweichten. „Bitte höre auf. Das hilft nicht. Bitte höre auf. Es wird alles gut, okay? Es wird alles gut." Nichts würde gut werden. Aber das konnte ich ihr nicht sagen. Ich hatte echt Angst um sie, während ich vor ihr kniete und sie festhielt und dabei ihr Herz in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit schlagen spüren konnte. Wenn sie sich zu Tode schrie, würde wirklich nichts mehr gut werden. Es schien ewig zu dauern, aber Kim kam tatsächlich irgendwann runter. Am Ende ließ ich mich auf meine Fersen sinken und sie rutschte stumm auf meinen Schoß, schloss die Augen und schniefte nur noch leise. Ihr Herz klopfte immer noch einen ziemlich wilden Rhythmus und ich wagte nicht, sie loszulassen. „Alles wird gut.", wiederholte ich in regelmäßigen Abständen und hoffte, dass sie mir das abkaufte. Ich selbst atmete erst wieder durch, als ich eilige Schritte vor dem Zimmer hörte.

„Lukas, Kim, ich...." Mehr konnte Julian offenbar in dem Moment selbst nicht sagen. Er ging neben mir in die Hocke, pflückte mir Kim vom Schoß und nahm sie auf den Arm. Sie schlang augenblicklich ihre Arme und Beine um ihn und rührte sich nicht mehr. „Hat sie..."

„Sie hat es mir erzählt.", hörte ich mich selbst wie durch Watte antworten. „Was ist mit mir?"

„Du packst deine Sachen und kommst mit mir mit. Wir ziehen vorerst zu meiner Mutter, die hat genug Platz für uns."

Mechanisch nickend stand ich auf. Ich wollte nicht weg. Ich wollte meine Dachschräge nicht abgeben. Ich wollte mein Zimmer nicht aufgeben. „Okay." Die Frage, was dauerhaft mit mir werden würde, konnte ich einfach nicht stellen. „Kommen wir zurück?", fragte ich und hörte selbst, wie hohl und verzweifelt meine Stimme klang.

„Sina bleibt hier. Wenn ihr sie sehen wollt, seid ihr hier." Und wenn ich hierbleiben will? War das eine Option? Ich traute mich nicht, die Frage auszusprechen.

„Wo ist sie?", fragte ich stattdessen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie uns- Kim und mich- in dieser Situation alleine ließ.

„Sie holt Felix aus der Betreuung und erklärt ihm alles." Julian und stand vorsichtig auf, während Kim sich immer noch mit aller Kraft an ihm festklammerte.

Sie erklärt ihm alles. Felix sprach noch keinen zusammenhängenden Satz. Er würde das sicher ganz prima verstehen. Sprachlos sah ich Julian dabei zu, wie er mit der freien Hand frische Socken aus Kims Schrank nahm und in den Koffer warf. Das war ein schlechter Scherz.

„Ihr trennt euch? Wirklich?" Die Worte stolperten einfach aus meinem Mund und der Unterton war unbeabsichtigt wütend. Ich konnte das einfach nicht fassen. Warum hatten sie mich aufgenommen, wenn ihre Ehe gerade mit Vollgas gegen die Wand fuhr? So lange war ich noch nicht hier. Sie mussten das doch gemerkt haben.

„Wir reden später, Lukas.", sicherte Julian mir zu. „Ich verspreche dir das. Wir finden eine Lösung."

Was für eine Lösung denn? Ich rührte mich nicht, weil meine Beine einfach nicht gehorchten.

„Lukas!" Julian schüttelte den Kopf. „Packe deine Sachen. Wir reden später- mit Sina- darüber wie es weitergeht und ich verspreche dir wirklich, dass wir eine Lösung finden. Aber jetzt fahren wir- du, Kim, Felix und ich- erstmal. Okay?"

Nicht okay. Nichts war daran okay. Trotzdem trugen meine Beine mich dieses Mal in mein Zimmer. Ich riss meine Reisetasche, mit der ich vor einigen Monaten eingezogen war, aus dem Schrank und warf achtlos Klamotten hinein. Alles, was ich an Schulsachen besaß, stopfte ich in meinen Rucksack. Das saure Fruchtgummi, das mir dabei in die Hände fiel, war nichts als ein böser Hohn in diesem Moment. Vor ein paar Stunden war meine Welt noch in Ordnung gewesen. Du hast halt kein Glück. Der Gedanke fraß sich in mich hinein, während ich die Schubladen des Schreibtisches durchging und mein Vokabelheft suchte. Du hast kein Glück und es ist herzlich egal, was du machst. Ich knallte die unterste Schublade zu, holte die restlichen Sachen aus dem Bad und schleppte meine Besitztümer nach unten und warf sie resigniert in Julians Kofferraum. 



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Weil dritter Advent ist und ich ein bisschen Zeit fürs Schreiben hatte, noch ein zweites Teilchen für heute.

Tja, die Sache mit der Trennung hätten Julian und Sina den Kindern irgendwie anders nahebringen sollen, oder? Da ist wohl eine üble Situation noch viel übler dadurch geworden, wie sie abgelaufen ist. 


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