Kapitel 22: Tektonisches Beben (5)

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Lukas


Ich war schon auf dem Fahrrad am nächsten Morgen genervt, obwohl das Wetter mild und trocken war und die Luft nach Frühling roch. Das Wochenende steckte mir in den Knochen und das Treffen mit Pia sowieso. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Ich war nicht nur enttäuscht, ich war auch genervt. Sie war gestern Abend von Anfang an eine seltsame Version ihrer Selbst gewesen. Kaum, dass sie sich bei mir versichert hatte, dass es Niro soweit gut ging, hatte sie mich nicht mehr zu Wort kommen lassen. Sie war kühl gewesen, fast von oben herab. Sie hatte in Einzelheiten von der Party gesprochen und dabei einen großen Bogen um das Thema gemacht, dass wir uns geküsst hatten. Bis ich es nicht mehr ausgehalten und es angesprochen hatte. Es hatte sie immerhin dazu bewogen, den Kuss zu bewerten- als „nicht schlecht"- und danach hatte ich mich erst recht gefühlt wie ein Idiot. Ich hatte da schon den Eindruck gehabt, dass das Ganze für sie vielleicht doch eher ein Spiel war, ein Ausprobieren oder- und das hätte ich ihr weniger übel genommen- einfach nur Spaß. Sie war gerade einundzwanzig, sie fing gerade ihr Studium an, sie war gerade dabei, sich selbst in Berlin ein Leben aufzubauen- vielleicht war der Zeitpunkt einfach furchtbar mies. Vielleicht musste ich mir eingestehen, dass ich nicht nur nicht mit Erstsemestern in einer Wohnung leben, sondern auch nicht mit ihnen Zusammensein wollte. Trotzdem, obwohl mich dieses Gefühl kurz beschlichen hatte, hatte ich mir noch ein Herz gefasst und ihr gesagt, was mir seit der Party durch den Kopf ging. Irgendwie hatte ich gehofft, es wäre vielleicht nur Unsicherheit, die sich legen würde, wenn ich mit offenen Karten spielte. Aber auch das war nach hinten losgegangen. Sie hatte in fast erschrockener Eile betont, dass wir uns doch kaum kennen würden- und davon gesprochen, mich vielleicht irgendwann mal wieder küssen zu wollen. Mehr Unverbindlichkeit und Schock war quasi nicht möglich gewesen und ich hatte mir den ersten Korb meines Lebens abgeholt- was noch bitterer schmeckte als erwartet. Ich hatte das nicht kommen sehen. Nicht so zumindest. Es war nicht so, dass ich auf jeden Fall davon ausgegangen war, dass sie Feuer und Flamme wäre – oder auch einfach nur glücklich- aber ich hatte nicht mit dieser peinlich berührten, überdrehten Pia gerechnet, die mir das Gefühl gegeben hatte, komplett an der Realität vorbei irgendetwas gespürt zu haben, was dann doch nicht da war.

Während ich mein Fahrrad am Unigelände abschloss und die letzten Meter zum Institut zu Fuß ging, war ich so sehr damit beschäftigt, den letzten Abend wieder und wieder in meinem Kopf durchzugehen, dass ich stumpf an einem meiner freundlich grüßenden Studenten vorbeimarschierte. Ich bemerkte ihn nicht einmal. Stattdessen sah ich sehr deutlich vor mir, wie ich mich bei Pia für das Missverständnis entschuldigt hatte. Sie hatte das ungerührt zur Kenntnis genommen- und ich war noch so weit mit ihr zurück gelaufen, bis ich die erstbeste Abzweigung in Richtung meiner Haltestelle hatte nehmen können. Die Verabschiedung war denkbar kühl ausgefallen und ich hatte die halbe Nacht wachgelegen und mich gefragt, ob ich am Freitag in einer anderen Realität unterwegs gewesen war als Pia.

Müde stapfte ich die Treppen in den zweiten Stock hoch, stapfte ins Büro, fuhr meinen Computer hoch und verschwand, mit meiner miesen Laune hoffentlich weniger sichtbar für die Welt, hinter meinem Bildschirm, checkte meine Mails und wollte schon mit meiner bisher erfolglosen Literaturrecherche weitermachen, als meine Kollegin mit einem Kaffee in der Hand aus der Küche ins Büro kam.

„Warst du schon in der Küche, Lukas?", fragte sie und stellte ihren Kaffee ab, bevor sie das Fenster aufriss und sich schwungvoll auf ihren Drehstuhl fallen ließ. Ihre gute Laune war unübersehbar.

Ich schüttelte nur den Kopf und tat, als hätte ich mich längst in den ersten Abstract vertieft.

„Da steht was für dich.", sagte sie in einem Ton, aus dem ich nicht schlau wurde und der mich dann doch aufmerken ließ.

„Was?", murmelte ich und witterte nichts Gutes.

„Ich finde, das solltest du dir selbst ansehen." Das belustigte Lächeln, mit dem sie ihrerseits hinter ihrem Monitor verschwand, blieb mir verborgen und trotzdem kam ich ihrer Aufforderung nach. Lange suchen musste ich nicht. Ich trat durch die Küchentür, sah mich einmal um- und blieb perplex stehen. Direkt vor mir, mitten auf dem kleinen Tisch, stand eine kunstvolle, schwarz-weiß gefleckte Torte. Obendrauf thronte eine kleine Kuh, vielleicht fünf Zentimeter hoch, mit rosafarbenem Maul und dunklen Augen. Fassungslos beugte ich mich darüber, bestaunte minutenlang die perfekt geformten Flecken und tippte zögerlich gegen die glatte Oberfläche. Vorher hätte ich kein Geld darauf verwettet, dass der Kuchen echt war. Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, wie man die Oberfläche gleichzeitig so fest und glatt und weiß bekam. „Krass.", murmelte ich beeindruckt und fragte mich gerade, wieso die Torte für mich sein sollte, als ich den grasgrünen Umschlag bemerkte- auf dem mein Name stand. Ratlos griff ich danach- und als ich eine Karte mit Kühen im Cartoon-Style in der Hand hielt, fragte ich mich, wer Spaß daran haben könnte, mit versteckter Kamera zu filmen, wie ich auf Kuhtorte reagierte. Ich dachte sofort an Juan und Daniel, konnte mir aber gleichzeitig nicht vorstellen, wie die eine Torte in der Küche meiner Arbeitsgruppe platzieren sollten. Es sei denn, Daniel hatte Stress mit Lena und brauchte Asyl und...

Ich stockte, als ich die Karte umdrehte. Die gerade Handschrift mit den hohen, aber klaren Bögen hatte ich noch nie gesehen- was auch nicht nötig war. Die Karte war lesbar unterschrieben. Spätestens daran wäre Daniel gescheitert.



Es tut mir Leid, dass du gestern alleine mit einer Kuh spazieren gehen musstest. Ich muss unterwegs an irgendeiner Stelle falsch abgebogen sein.

Das Chemieexperiment am Freitag war phänomenal. Lass uns das unbedingt unter verschiedenen Bedingungen wiederholen, bis es belastbare Ergebnisse liefert. Ich liebe Wissenschaft.

Pia



Ich las die Karte dreimal, bevor ich glaubte, sie verstanden zu haben. Dann ging ich vor dem Tisch mit der Torte in die Hocke, zog mein Handy aus der Gesäßtasche, machte ein Foto und schickte es an Pia.

„Was hältst du von folgenden Testbedingungen: Mittagssonne und erhöhte Glukosekonzentration im Blut?"



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Ob Pia sich ziemlich gut entschuldigen kann? 😅

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