Kapitel 26: Gewitter (5)

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Lukas



Ich schaffte es, die verkrampfte Hand aufzumachen und sinken zu lassen, zu atmen und zu warten, bis das Dröhnen in meinen Ohren nachließ. Als ich nach meiner Lippe tastete und meine blutigen Finger zurückzog, ließ Mark die Hände langsam sinken. Er entschuldigte sich, aber ich konnte und wollte nichts erwidern, als das Blut anfing von meinem Kinn zu tropfen. Ich war in Schockstarre, auch dann noch, als in der Notaufnahme im Erdgeschoss meine Lippe genäht wurde, als ich danach auf einem Bein balancierte und die Frage, ob ich Kopfschmerzen hatte verneinte. Ob ich mich benommen fühlte. Ich blinzelte, bevor ich den Kopf schüttelte. Ich war nicht benommen, nur betroffen und fassungslos. Ich behielt es für mich und sah am kritischen Blick der Ärztin, dass sie sich nicht sicher war, ob ich die Wahrheit sagte.

„Kann Sie jemand abholen?"

„Ja."

„Ist heute Nacht jemand bei Ihnen?"

Ich zögerte, bevor ich nickte. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, eine Nacht im Krankenhaus verbringen zu müssen, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich Pia darum bitten könnte. „Mein Kopf hat die Wand kaum berührt."

„Ihr Gesicht erzählt mir eine andere Geschichte." , antwortete sie trocken und ich sah ihr an, dass sie nur mühsam dem Drang widerstand, die Augen zu verdrehen. Auf die Frage, ob ich Anzeige erstatten wolle, schüttelte ich fast reflexhaft mit dem Kopf. Nein, wollte ich nicht. Ich wollte zu Inga, ich wollte mich vergewissern, das alles in Ordnung war. Außerdem wollte einen großen Bogen um Mark machen, um mir nicht seine fünfte flehentlich vorgetragene Entschuldigung anhören zu müssen.

„Es geht mir gut.", beteuerte ich. „Ich lasse mich abholen und ich bin nicht alleine zuhause. Die Fäden lasse ich in einer Woche ziehen.", spulte ich ab. Sie zuckte mit den Achseln und nickte geschlagen.

„Dann war's das. Glück im Unglück."





Als ich die Tür zu Ingas Zimmer aufmachte, rechnete ich fast damit, dass Mark neben ihrem Bett sitzen würde, aber sie war alleine. Ihre Zimmernachbarin las mit dicken Kopfhörern in ihrem Buch und als Inga mich sah, als ihr Blick auf meine zusammengenähte Unterlippe fiel, schloss sie resigniert die Augen.

„Hi.", sagte ich vorsichtig und spürte, wie ich schuldbewusst die Schultern hochzog. Das mit Mark und mir musste ein Alptraum für sie sein.

„Lukas...", erwiderte sie meine Begrüßung leise. Sie hob die Hand und mein Blick fiel sofort auf den Venenzugang an ihrem Handrücken.

„Wie geht es dir?", fragte ich, noch immer die Türklinke in der Hand.

Sie seufzte. „Besser."

„Und...dem Kind?"

„Gut, Lukas. Alles in Ordnung soweit. Du hättest nicht kommen müssen." Dann wäre das mit dir und Mark nicht passiert. Das sagten zumindest ihre Augen.

„Ich wollte aber."

„Ja, das habe ich gemerkt.", murmelte sie nachdenklich, bevor sie ihre Hand ausstreckte. „Komm her. Ich habe Mark nach Hause geschickt." Als ich einen der Stühle neben ihr Bett zog und mich setzte, blieb Ingas Blick wieder an meinem Gesicht hängen. „Tut es weh?"

Ich schüttelte den Kopf, obwohl meine Unterlippe pochte und ziepte. „Was war los? Ich bin durchgedreht vor Angst."

„Wahrscheinlich Blutzuckerschwankungen. Vielleicht war der Blutdruck auch nur zu niedrig. Vielleicht lag es am Wetterumschwung. Sie haben Blut gezapft, Blutdruck gemessen und ein CTG geschrieben." Sie ließ sich rückwärts gegen das Kopfende ihres Bettes sinken und schloss für einen Moment die Augen. „Vielleicht ist es auch der Schlafmangel. Ich kann nicht mehr schlafen. Mein blöder Rücken tut weh." Den fehlenden Schlaf sah man ihr aus der Nähe an und ich widerstand mühsam dem unangemessenen Drang, ihr über die Wange zu streichen.

„Jetzt schon?", fragte ich stattdessen.
„Ja, jetzt schon.", murmelte Inga und schnaufte leise und frustriert. „Drittes Drittel." Ein schwaches Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. „Fast schon Zielgerade."

„So betrachtet ist das aber eine lange Zielgerade."

Inga nickte und schloss die Augen. „Ich will nicht, dass es der Blutzucker ist.", sagte sie nach kurzem Zögern.

„Und wenn doch?"

„Ich weiß nicht.", murmelte sie und fuhr sich mit der Hand über die geschlossenen Augen. „Irgendwas zwischen Ernährungsumstellung bis Insulin spritzen."
„Der Bereich dazwischen ist aber wirklich ziemlich groß, oder?", versuchte ich sie aufzumuntern und stupste ihr vorsichtig gegen den Oberarm. Es änderte nichts daran, dass ich mich hilflos und dumm fühlte.

„Ich weiß. Trotzdem." Inga schniefte und wischte sich wieder über die Augen, um zu verbergen, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Ich habe trotzdem Angst um sie. Auch, wenn alle sagen, dass es ihr gut geht." Sie schnappte sich meine Finger und hielt sie fest. „Und dann macht ihr das.", sagte sie nach einer kurzen Pause eindringlich und schüttelte den Kopf. „Habt ihr den Verstand verloren? Ihr prügelt euch in einem Krankenhausflur?"

„Du weißt schon, wer wen unprovoziert von hinten geschubst hat?", fragte ich steif zurück und versuchte erfolglos, meine Finger aus ihrer Umklammerung zu befreien.

„Unprovoziert?!" Inga funkelte ich an. „Das..."

„...ist die Wahrheit.", beendete ich den Satz möglichst ruhig und abschließend für sie. „Lass gut sein. Ich zeige ihn nicht an, wenn das deine Sorge ist. Das hat man mich unten schon gefragt."

„Nein, das ist nicht meine Sorge.", sagte sie, aber das wachsame Funkeln in ihren Augen wurde weicher. Meine Finger ließ sie dennoch nicht los. „Meine Sorge ist, dass ihr euch umbringt, bevor das Kind auf der Welt ist."

„Ich bringe niemanden um.", erwiderte ich, um einen abschließenden Tonfall bemüht. „Ich lasse mir nur nicht verbieten, dich im Krankenhaus zu besuchen, und schon gar nicht, bevor sicher ausgeschlossen ist, dass deine Tochter auch meine Tochter ist. Das kannst du Mark ausrichten. Mehr habe ich ihm nicht zu sagen."

Inga setzte zu einer Antwort an, unterbrach sich aber. „Okay.", sagte sie dann und schickte einen tiefen Seufzer hinterher. Wir sahen einander schweigend in die Augen und ich genoss, nur für einen Moment, dass Ink und ich uns immer noch so gut kannten, dass wir auch ohne viele Worte zwei Übereinkünfte treffen können. Ich versprach stumm Frieden mit Mark, und Inga drückte im Gegenzug fest meine Hand. „Niemand nimmt sie dir weg. Versprochen."

Ich blieb noch, bis das Abendessen aufs Zimmer gebracht wurde. Wir sprachen nicht viel. Ingas Hand lag ruhig auf meiner, während die tat, was ich noch vor Kurzem kategorisch abgelehnt hatte. Sie ruhte auf Ingas Bauch und bei jedem Kitzeln unter meiner Haut stolperte mein Herzschlag.

Irgendwann fragte Inga nach Pia. „Du wolltest ihretwegen eigentlich heute mit mir sprechen, oder?"

„Ja."

„Weswegen?"

„Nicht mehr wichtig."

„Lukas..." Sie schnaubte und schubste meine Hand sachte zur Seite. „Was ist mit deinem Pferdemädchen?"


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Meint ihr, es wäre eine gute Idee, wenn Lukas Pia darum bittet, ihn abzuholen? Und würde sie das machen?

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