Kapitel 17: Gezeitenwende (4)

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Lukas



Sie verharrte bewegungslos auf dem Weg und während sich der Schreck mit jedem Sekundenbruchteil deutlicher auf ihrem Gesicht abzeichnete, machte mein Herz in meiner Brust einen fast schmerzhaften Stolperer. Dieses Mal erkannte sie mich. Meine Tante, deren braune Haare in den letzten Jahren grau geworden waren, umklammerte die Gartenhandschuhe in ihren Händen, während mein Kopf versuchte mit sich auszumachen, was ich fühlen sollte.

„Ist das...", setzte Julian kaum hörbar neben mir an und ich nickte ruckartig. Ja, das war die Schwester meines Vaters, die im gleichen Ort gewohnt hatte und an deren Haustür ich geklingelt hatte, nachdem ich aus Berlin zurückgekommen war. Damals, als ich in Frage gestellt hatte, was ich hatte, ob ich ein Zuhause und eine Familie hatte, als ich mein altes Zuhause hatte besuchen wollen und nur ein fantasieloses, graues Neubaugebiet gefunden hatte. Und eben diese Frau, die mich nicht mehr wiedererkannt hatte, nachdem sie mich damals vom Jugendamt hatte abholen lassen. Mich und Hanna.

„Lass uns gehen.", sagte ich schroff und wand mich aus Julians Arm. „Ich brauche das heute nicht." Die Zeiten, in denen ich sie gebraucht hätte, waren längst vorbei.

„Lukas!"

Meine Nackenhaare stellten sich nur wegen der fauchten Kälte auf, als sie mich rief und ich drehte mich auf dem Absatz um, um einfach zu gehen.

„Lukas, warte!"

„Warte." Julians Hand auf meiner Schulter hielt mich wirksamer zurück, als eine Kette es je vermocht hätte und ich verharrte, den Blick auf dem Boden vor mir gerichtet, während ich eilige Schritte näher kommen hörte.




Zuhören war mir nie schwerer gefallen als in den nächsten Minuten, als sie mir erzählte, sie sei vor wenigen Monaten einfach nicht sicher gewesen, ob wirklich ich gerade vor ihrer Haustür stand. Ich sähe so anders aus, so erwachsen und so wenig wie das Kind, dass sie zuletzt gesehen hatte. Damals war ich zwölf gewesen, schon in Pflegefamilie Nummer Vier, und wir hatten in der Stadt Eis gegessen. Sie und ich. Meine Cousinen waren damals nicht dabei gewesen. Rückblickend hatte ich verstanden, dass sie sich da von mir verabschiedet hatte.

„Gott, ich hatte so ein schlechtes Gewissen damals.", hörte ich sie sagen und vermied es immer noch entschieden, sie anzusehen. „Ich konnte nicht dabei zusehen, wie du wieder und wieder umgezogen bist und...ich konnte das nicht, Lukas." Sie erzählte in einem sturzbachartigen Redeschwall, dass sie anderthalb Jahre später nochmal Kontakt mit mir hatte aufnehmen wollen- und als sie dann erfahren hatte, dass ich zu dem Zeitpunkt in einer Wohngruppe gelebt hatte, hätte sie mich vor Angst vor dem, was sie erwarten würde, doch nicht besucht.

„Besser für dich." Ich hob den Kopf und sah ihr dann doch in die Augen, als ich das aussprach.

„Lukas..."

„Ich meine das ernst. Ich war in der Psychiatrie danach." , fügte ich trocken hinzu. Vermutlich hätte sogar sie mir damals angemerkt, dass ich auf dem Weg dahin war. Der große Knall war mit Ansage gekommen und hatte wohl niemanden, nicht einmal mehr mich selbst überrascht.

„Ich konnte dich damals nicht aufnehmen. Dich nicht und Hanna auch nicht. Ich hatte keine Zimmer für euch und drei eigene Kinder. Wie hätte ich das machen sollen? Ich hatte gerade meinen Bruder verloren."

„Darum ging es nie. Besuche hätten es auch getan." Und eine Erklärung, was mit mir passieren würde. Von ihr, und nicht von der Mitarbeiterin vom Jugendamt.

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