Kapitel 10: Exotherme Reaktion (4)

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Berlin


Obwohl meine Beine und Augenlider nach dem Spaziergang gleichermaßen schwer waren und sich die Luft, die durch das offene Fenster hineinströmte, langsam abkühlte, fand ich nicht in den Schlaf. Vielleicht, weil wieder und wieder nicht nur diese Party in mein Gedächtnis drängte, sondern alles, was danach passiert war. Alles. Alles war quasi nichts. Gemessen an allem, was gewesen war, war nach dieser Party nichts passiert. Ink war zu ihren Eltern gefahren und hatte sich totgestellt. Für drei Tage hatte ich nichts von ihr gehört. Ich war wütend gewesen, ich hatte mir Sorgen gemacht und ich hatte mit dem Gedanken gespielt, ihr einfach nachzufahren. Ich war mir sicher gewesen, dass irgendetwas schief lief, aber ich hatte nicht ausmachen können was. Noch weniger hatte ich gewusst, was ich hätte tun sollen. Ich hatte mein Handy in der Hand gehabt und irgendjemanden anrufen wollen. Irgendjemand war eigentlich Julian gewesen. Einfach, weil ich mit jemandem hatte sprechen wollen. Rückblickend hatte ich zwar nicht geahnt, was genau mich nach Ingas Heimkehr erwartet hatte, aber ich hatte gespürt, dass etwas auf mich, auf uns, zurollte. Ich hatte damals schon fast Julians Nummer gewählt, als ich es mir anders überlegt hatte. Was hätte ich ihm sagen sollen? Dass Inga sich so betrunken hatte, wie ich es noch nie erlebt hatte? Das sie danach zu ihren Eltern abgehauen war? Das ich mir Sorgen machte? Das etwas nicht stimmte? Das ich mir nicht sicher war, ob ich ihr Schweigen länger aushalten konnte? Außerdem hatte ich gewusst, welche Frage er mir gestellt hätte und ich hatte sie nicht beantworten wollen. Ob ich ihr Schweigen länger aushalten wollte. Er hätte das gefragt. Und vielleicht hätte er Minesweeper erwähnt. Also hatte ich mein Handy weggesteckt. Es hätte wirklich nichts geändert, wenn ich ihn damals angerufen hätte. Vielleicht hätte ich mich in dem Moment weniger alleine gefühlt. Vielleicht wäre ich trotzig geworden. Es wäre egal gewesen. Es hätte nichts daran geändert, dass ich an dem Mittwochmorgen nach unserer Party von meiner Vorlesung nach Hause gekommen war und zwei große Reisetaschen im Flur gestanden hatten. Ink hatte im Wohnzimmer auf mich gewartet. Auf dem Couchtisch hatte ein Umschlag mit ihrem Teil der Miete für die nächsten drei Monate gelegen. Ink war eben ordentlich. Sie hielt Fristen ein. Sie war bei all unserem gemeinsam abgeschlossenen Verträgen nach drei Monaten ausgestiegen. So viel Zeit hatte sie mir zugestanden, mein Leben neu zu organisieren. Das war ihr wohl wie eine angemessene Kündigungsfrist unserer Beziehung vorgekommen. Und so hatte sie sich auch von mir getrennt. Geschäftsmäßig und bedacht.

Ich lag stocksteif auf dem Rücken und starrte mit weit geöffneten, brennenden Augen an die Decke, während ich mich daran erinnerte.


Der Anfang vom Ende


„Was soll das?" Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich ins Wohnzimmer kam und Inga auf dem Sofa sitzen sah. Ich hatte das ausgeräumte Schuhregal und ihre Taschen im Flur gesehen. Nur meine Jacken hingen noch an der Garderobe. Ich wusste, was gerade passierte noch bevor sie ein Wort gesagt hatte.

„Hi, Lukas.", sagte sie und ich hörte die unterschwellige Nervosität heraus. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt. Sie war geschminkt und sie trug diesen dunkelgrünen Rollkragenpulli, der sich so weich und eng an ihren Körper schmiegte, dass er mich daran erinnerte, wie sie ohne ihn aussah. Es war der unpassendste Gedanke, den man in diesem Moment haben konnte, aber ich war nicht doof genug, um nicht zu wissen, dass sie es darauf angelegt hatte. „Wir müssen reden."

„Offensichtlich." Ich blieb mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen und versuchte, über das ohrenbetäubende Rauschen in meinen Ohren irgendetwas zu hören. Mein Gesicht und meine Finger kribbelten- nicht angenehm, sondern vor Anspannung. Ich wollte nicht hören, was sie zu sagen hatte und gleichzeitig wusste ich, dass ich keine Wahl hatte.

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