Kapitel 27: Wunder (6)

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Lukas


Sie wollte gerade weitersprechen, als Felix Zimmertür quietschend aufging. Sina blieb stumm, bis die Badezimmertür ruppig zugezogen wurde. Mir entging nicht, dass Julian und Sina sich beide bei dem Geräusch entspannten. Mich machte gleichzeitig unruhig, dass Felix offensichtlich nichts von der anstehenden Operation wissen sollte. Um harmlose Kleinigkeiten machte man kein Geheimnis.

Als im Bad die Dusche anfing zu laufen, sprach Sina weiter. „Die Bandscheibe, die damals betroffen war, ist ein Punkt. Die darunter ist auch verschoben. Und in der Nachbarschaft gibt es auch noch einen uralten, längst verheilten Wirbelbruch, um den herum sich Arthrose gebildet hat. Das ist alles nicht so richtig neu..."

Für mich schon. Allein das Wort Wirbelbruch gab mir Gänsehaut.

„Das Problem ist, dass dadurch mein Wirbelkanal zu eng geworden ist. Meine Nerven werden dauerhaft eingeklemmt. Das tut weh."

„Es wird auch einfach gefährlich.", fügte Julian hinzu, der bislang stumm zugehört hatte und sah Sina dabei ernst an.

Sie wischte seinen Einwurf mit einer Handbewegung beiseite. „Man wird versuchen, den Nerven mehr Platz zu machen." Sina lächelte aufmunternd, als sie meine ratlose Miene bemerkte. „Es ist kein großes Ding."

So selbstsicher und locker sie das gesagt hatte, hätte ich ihr fast geglaubt. Weil ich so sehr wollte, dass sie recht hatte. Julian aber lachte schnaubend.

„Verasche Lukas nicht, Sina. Das kann ich nicht leiden." Sie setze zu einem Widerspruch an, aber Julian kam ihr zuvor. „Das betroffene Stück ist nicht klein. Die OP kann nicht minimalinvasiv gemacht werden und sie wird Stunden dauern. Den ersten Bandscheibenvorfall hat man damals nicht operiert, weil das Risiko für Nervenschäden im Verhältnis zu der Besserung, die man sich versprochen hätte, zu groß war. Das Risiko ist nicht kleiner geworden. Es gibt nur keine Alternative."

„Und wenn man nichts tut?", fragte ich, vielleicht, weil ich nicht wahrhaben wollte, was hinter der Aussage, dass es keine Alternative gab, steckte.

„Dann läuft Sina nicht mehr lange.", sagte er. Diese klare, unbeschönigte Aussage kam einem Faustschlag in die Magengrube gleich. Endgültig desillusioniert sah ich Sina an, die meinen Blick ruhig und scheinbar emotional unberührt erwiderte. Sie widersprach allerdings auch nicht.

„Ich will nicht, dass ihr euch Sorgen macht.", sagte sie nach einem Augenblick der Stille, in dem ich versuchte, die Situation zu greifen. „Julian hat recht, wenn er sagt, dass es keine Alternative gibt. Die OP ist wichtig. Angst davor zu haben hilft weder mir noch euch. Ich habe mir einen erfahrenen Chirurgen ausgesucht und er ist zuversichtlich. Also bin ich das auch." Sie schob ihre Hand über die Tischplatte zu Julian herüber, der mit eingefrorenem Gesichtsausdruck danach griff. Ich hätte darauf schwören können, dass er die Luft anhielt und sich auf die Wange biss. „Deswegen" , sagte sie und es klang festentschlossen und fast drohend, „werden wir auch das zweite Pferd vor der OP kaufen, wenn es uns vorher über den Weg laufen sollte." Sie grinste mir zu, während sie Julians Hand fester drückte. „Julian hier will kein Geld mehr ausgeben, weil er schon durchgerechnet hat, was es kosten würde, das Haus behindertengerecht umzubauen."

„Mache keine Witze darüber!", sagte der scharf und prompt. Mir selbst war flau im Magen. Klar hatte ich mir in den letzten Jahren Sorgen gemacht, wenn Sina wirklich schlecht gelaufen war. Klar hatte ich mir Sorgen gemacht, wenn sie mit offensichtlichen Schmerzen aufs Pferd stieg. Aber diese Sorgen hatte ich immer spätestens dann vergessen, wenn sie abends auf dem Sofa gesessen hatte und der einzige Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmen könnte, ihre gereizte Stimmung gewesen war. Dass die Möglichkeit bestand, dass sie mal nicht mehr würde laufen können, war mir gegenüber nie ausgesprochen worden.

„Das war kein Witz.", entgegnete Sina kühl und zog ihre Hand zurück. „Aber wenn du das Geld nicht ausgibst, weil du zu viel Angst hast, dann machst du mir Angst. Und das ist eine dumme Idee." Sina sah zu mir herüber und seufzte. „Ich wollte nichts sagen, weil ich mit genau diesem Blick gerechnet habe."

Mein Mund gehorchte mir nicht, als ich ihr sagen wollte, dass bestimmt alles gut werden würde und auch ich zuversichtlich sei. Es ging einfach nicht, weil der Druck in meiner Brust anstieg und anstieg. Umso länger ich mir vor Augen führte, was wohl bei einer mehrstündigen Operation an der Wirbelsäule alles schiefgehen könnte, desto schlimmer wurde es. Ich hätte es niemals und niemandem gegenüber zugegeben, aber während meine Handflächen feucht wurden, roch ich zum ersten Mal seit Jahren wieder Rauch, der nicht da war.

„Felix und Kim wissen noch nichts.", hörte ich Julian entschuldigend sagen, während ein leises und dabei beharrliches Fiepen in meinem rechten Ohr einsetze. „Wir wollten eigentlich mit euch dreien sprechen, sobald Kim wieder zuhause ist. Dann hättet ihr es alle gleichzeitig erfahren und euch auch nicht so unnötig lange verrückt machen müssen."

Ich nickte. „Ich behalte es für mich.", sagte ich und rieb mir mein Ohr. Die Badezimmertür ging auf, Felix stapfte erst geräuschvoll an der Küche vorbei in sein Zimmer, dann kam er doch zu uns.

„Morgen.", brummte er unwirsch, ließ sich auf den freien Platz fallen und beendete mit seiner bloßen Anwesenheit das Thema. 


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Der eine kauft sich ein Pferd und erfüllt sich seine Träume, die andere kämpft mit den Nachwirkungen der eigenen Traumerfüllung. 

Wie besorgt wärt ihr an Lukas' Stelle? 

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