Wolfsburg
Als ich den Klingelton meines Handys unvermittelt durch meine Kopfhörer auf die Ohren bekam, riss er mich so unsanft aus meinen Gedanken, dass ich sichtbar aufschrak. Die Hauptstadtstudentin vor mir sah mich aus ihren großen Augen missbilligend an. Wahrscheinlich war ich als reaktionsfähiger Mensch ihrem Empfinden nach kein würdiger Mitreisender. Wahrscheinlich war ich ihr nicht abgezockt genug. Sie hätte vermutlich auch dann noch demonstrativ gelangweilt geguckt, wenn der Zug entgleist wäre. Hastig griff ich nach meinem Telefon -was mir einen regelrecht empörten Blick einbrachte- und hielt kurz inne, als ich sah, wer anrief. Ich wusste nicht, ob ich dieses Gespräch in einem vollen Zug führen wollte. Zögerlich nahm ich ab.
„Ja?"
„Na, immerhin einer von euch spricht noch mit mir."
„Die anderen beiden nicht?"
„Kim reißt die Bude ein und Felix liegt ungefähr so tief schlafend im Bett wie du früher, wenn du sauer warst." Julian seufzte. „Er spricht also nicht mit mir, nein. Bist du in Ordnung?"
Ich rieb mir fest mit den Fingerspitzen über die Stirn. War ich in Ordnung? „Ich bin ausgezogen, Julian. Wenn Sina das mit Ingolstadt machen will, muss sie das mit Felix, Kim und dir ausmachen."
„Das war nicht die Frage, Lukas."
Nein, war es nicht. Wusste ich selbst. „Ich bin okay." Was die Sache mit Sina und ihren verworfenen Auszugsplänen anging zumindest und über das andere wollte ich nicht reden. Mein Zug hatte in Wolfsburg gehalten und sich gerade wieder in Bewegung gesetzt. So langsam war ich mir nicht mehr sicher, ob ich mir nicht doch wünschte, dass er nochmal hinter einem Güterzug hängen blieb. „Die Sache ist doch vom Tisch.", fügte ich an. „Ich meine, Kim und ich haben unser Veto eingelegt und damit..."
„...ist die Sache vom Tisch, ja.", bestätigte Julian und ich hörte ihn tief seufzen, wobei ich nicht sagen konnte, ob es Erleichterung oder Enttäuschung ausdrückte.
„Du hast das unterstützt?", fragte ich und bemühte mich, den ungläubigen Tonfall nicht zu deutlich herausklingen zu lassen. Alter, Sina ist deine Frau. Mir ging nicht in den Schädel, wie er die Idee, sie alle paar Wochen mal zuhause zu sehen, gutheißen konnte. Es sei denn, Kim hatte Recht und es kriselte hinter den Kulissen.
„Ich stehe hinter Sina. Sie ist nicht glücklich mit der Situation hier und ich bin nicht glücklich darüber, dass sie ihren Knochen hier den Rest gibt. Das wäre eine Chance für sie und ich hätte es ihr von Herzen gegönnt. Was nicht heißt, dass ich mir wünsche, dass sie geht oder nicht verstehe, dass ihr sie nicht gehen lassen wollt. Ich würde mir wünschen, dass sie das gleiche Angebot hier um die Ecke bekäme."
Das waren ungewohnt deutliche Worte von ihm und ich schwieg, während ich sacken ließ, was er da ausgesprochen hatte. „Felix ist zwölf, Julian.", sagte ich dann leise, weil mir das Bild von ihm- eingefroren und geschockt bis ins Mark- nicht aus dem Kopf ging. Einfrieren war ungefähr die krasseste Reaktion, die man von ihm bekommen. Er flippte nicht aus wie Kim. Er fing nicht mehr schnell an zu weinen und wenn er mit zitternder Unterlippe vor mir saß, dann stieß das in mir etwas an, das ich niemals zugegeben hätte: einen verdammt ausgeprägten Beschützerinstinkt. Ich liebte den Zwerg mehr als jeden anderen Menschen auf dieser Welt. Er war eben der Zwerg- auch, wenn er mir mittlerweile bis zur Nasenspitze reichte und zum Glück nicht mehr neben mir einschlafen wollte.
„Es geht gerade aber nicht um Felix, sondern um dich."
„Wie soll ich das denn losgelöst von Felix sehen? Soweit ich weiß, sind wir immer noch eine Familie. Und da gehört Felix dazu. Wie soll ich da mit ruhigem Gewissen einer Sache zustimmen, die ich für grundfalsch halte?"

DU LIEST GERADE
Lieblingstag
Teen FictionInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...