Kapitel 7: Frohes Neues (4)

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Bis die Sonne aufging, bekam ich kein Auge zu und keinen klaren Gedanken gefasst. Erst, als es in meinem Zimmer hell wurde, dämmerte ich wieder und wieder für einige Minuten am Stück weg nur um wieder hochzuschrecken, wenn ich Geräusche ihm Wohnzimmer oder der Küche hörte. Ich rechnete jeden Moment damit, dass jemand meine Tür aufmachen würde, um mit mir zu reden, aber das passierte nicht. Meine Tür blieb zu. Stattdessen hörte ich, wie nebenan Felix geweckt und danach Frühstück gemacht wurde. Ich rang heftig mit mir, ob ich aufstehen sollte oder nicht, ob ich mich dazu setzen sollte oder nicht und blieb dann doch im Bett. Nicht, weil ich müde gewesen wäre, sondern weil ich zum ersten Mal wirklich Mist gebaut hatte. Ich hatte nicht einfach nur eine dumme, eine falsche Entscheidung getroffen, sondern eine Grenze überschritten. Irgendwie versehentlich, aber nicht versehentlich genug, als dass es kein Nachspiel haben würde. Und wenn dieses Nachspiel mit Hausarrest zu tun hätte, dann wäre ich der glücklichste Mensch der Welt.

Als das Geschirrklappern in der Küche das Ende vom Frühstück verkündete, hatte mich keiner geweckt und niemand nach mir gerufen. Ich spitzte die Ohren, wartete und warf nervös Blicke auf die Uhr. Erst schienen sich die Zeiger nicht bewegen zu wollen, aber je länger ich darauf schaute, desto schneller lief die Zeit weiter. Es war fast elf, als ich die Warterei nicht mehr aushielt, mir Jogginghose und T-Shirt überzog und ruckartig- als würde ich ein Pflaster abziehen- meine Zimmertür öffnete. Das Wohnzimmer war leer. Abwartend und langsam ging ich in die Küche, aus der ich Geräusche hörte und blieb mit einigem an Sicherheitsabstand stehen, als ich Julian am Küchentisch sitzen sah. Sichtlich müde und mal nicht in Reitsachen starrte er vertieft auf den Bildschirm des Laptops vor ihm. Vorsichtig räusperte ich mich und er hob den Blick, ohne sich sonst zu rühren.

„Hi.", sagte ich leise und lehnte mich gegen die Kühlschranktür.

„Hallo, Lukas." Er verzog keine Miene und wandte sich wieder seinem Computer zu. Das Desinteresse, mit dem er mich abstrafte, ließ mich frei in der Luft hängen.

„Du wolltest mit m..."

„PAPA! Es geht los!", brüllte Felix offenbar von vor der Wohnungstür und unterbrach mich damit.

„Komme!", rief er zurück, klappte den Laptop zu und ging ohne ein weiteres Wort in den Flur. Ich folgte ihm, weil ich keine Ahnung hatte, was ich sonst tun sollte und guckte stumm dabei zu, wie er seine Schuhe anzog, seinen Mantel vom Haken fischte und nach einer Sporttasche griff, die unter der Garderobe stand.

„PAPA!", brüllte Felix mit Nachdruck, mittlerweile aus dem Treppenhaus.

„Bin unterwegs.", rief er zurück, wickelte sich seinen Schal um, griff nach seinen Schlüsseln und bedachte mich, der reglos und ratlos hinter ihm stand, mit einem Stirnrunzeln.

„Wo geht ihr hin?", fragte ich und meine Stimme klang in meinen eigenen Ohren seltsam dünn.

„Neujahrskaffee bei Sinas Eltern. Wie jedes Jahr.", erwiderte er knapp und hatte die Türklinke schon in der Hand.

„Ich bin noch nicht fertig.", sagte ich schuldbewusst, weil ich diesen Termin vergessen hatte und war schon fast auf dem Sprung ins Bad. „Ich beeile mich, ich..."

„Zu spät." Er zuckte mit den Schultern. „Abfahrt ist jetzt. Bis später."

„Aber..." Ich machte noch einen Schritt auf ihn zu, aber er war schon aus der Wohnung raus und zog die Tür hinter sich zu, die nur Zentimeter vor meiner Nase ins Schloss fiel. Deutlicher hätte er mir nicht zeigen können, dass ich raus war.




Unruhig starrte ich vom Küchenfenster aus auf den Parkplatz und wartete gleichzeitig sehnsüchtig und nervös auf Julians Auto. Es war nach fünf, längst wieder dunkel und der Neujahrskaffee bestimmt längst durch. Trotzdem kam keiner und ich fragte mich, ob das mit der Sporttasche zusammenhing, die Julian in der Hand gehalten hatte. Oder war das nur ein verspätetes Weihnachtsgeschenk für Sinas Eltern gewesen? Mir entging die Ironie nicht, dass anders als in der Nacht zuvor ich jetzt derjenige war, der angespannt wartete. Ich hatte in der Zwischenzeit geduscht, Müsli gegessen, mein Zimmer aufgeräumt, verzweifelt darüber nachgedacht, ob und was ich Inga schreiben sollte und meine Warterei dann mit einem quietschsüßen Zitronenjoghurt abgerundet. Normalerweise hätte ich angerufen und gefragt, wann sie zurückkämen. Das ließ ich jetzt bleiben und als mir um sechs beinahe die Decke auf den Kopf gefallen wäre, zog ich meine dicke Winterjacke und meine Stallschuhe an und besuchte Galina. Sie fand mich eine Weile neben ihrem Heu ziemlich nebensächlich, aber als ich ihre Boxentür hinter mir zumachte und mich mehr unter als neben ihren Futtertrog kauerte, weil mich Scham und Leere gleichermaßen überwältigten, wandte sie ihren schiefen Kopf doch mir zu.

„Hey, Flugmaus.",flüsterte ich und hielt ihr meine Hand hin. Alleine das Wort Flugmaus versetzte mir einen Stich. Sina hatte die Flugmaus für mich gekauft und ob sie nun mit Kims Pony mithielt oder nicht- Galina war perfekt für mich. Als sie mir mit ihrer warmen Zunge über die Handfläche leckte und mich dabei aus ihren großen, treuen Augen ansah, biss ich die Zähne fest zusammen, um das Zittern meines Unterkiefers zu unterbinden. Ich hatte die Frau geschubst, die mir ein Pferd geschenkt hatte und sich mehrere Stunden in der Woche in die Reithalle stellte, um mir Reiten beizubringen. Ich hatte Kims und Felix Mutter Treppenstufen heruntergeschubst, weil ich wütend gewesen war. Wenn das jemand mit meiner Mutter getan hätte...Ich zog die Knie fester an den Körper und ließ meine Augen nicht von Galina, die sachte mit ihren Lippen nach meinen Fingerspitzen schnappte. Es war keine Absicht gewesen, versuchte ich mich zu beruhigen, wieder und wieder, während Galina näher kam, von meinen Fingern abließ und mir stattdessen in die Haare prustete. Ich hatte das nicht mit Absicht getan und würde sowas nie mit Absicht machen. So war ich nicht. Ganz unabhängig davon, wer Sina für mich war oder nicht. Ich unterdrückte den Ekel, als Galina mir ihre Zunge einmal quer über die Stirn und dann durch die Haare rieb und schloss fest meine Augen. Dieses Pferd war zu lieb und ein bisschen zu seltsam. Sie hatte wirklich ein Herz aus Gold und ich war mir sicher, dass sie spürte, dass das meine gerade zu einhundert Prozent aus Blei gefertigt war. Ich musste das in Ordnung bringen. So schwer es auch werden würde. Sobald sie zurückkamen, musste ich das klären. Nicht nur die Sache mit dem Stoßen. Vielmehr die Sache mit dem Geld. Oder die mit den Regeln. Meine Augen brannten heiß, als Galina neben meinem Ohr prustend ausatmete. Es war okay, wenn sie Geld dafür bekamen, dass ich hier war. Es war wohl auch okay, wenn sie das benutzten. Egal, wie seltsam sich das für mich anfühlte. Immerhin war ich nicht ihr Kind- und darauf beharrte ich mehr als sie. Du bist mein verdammtes Kind, du Idiot! Das hatte Sina mir wutentbrannt hinterhergebrüllt und dieser Satz saß wie ein Stachel tief und fest in meinem Bewusstsein und ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Er tat weh, weil ich nicht ihr Kind war. Weil ich eine Mutter und einen Vater hatte, die auf einem Friedhof beerdigt lagen. Weil ich diese Menschen liebte und vermisste und weil ich ihr Kind war. Jemand anderem zuzugestehen mich so zu nennen war, als würde man meinen Eltern dieses Recht wegnehmen. Als würde ich mich von ihnen lossagen, als würde ich sagen: Hey Eltern, ich habe euch liebgehabt, aber ihr seid abgelöst. Ciao. Das war Verrat. An ihnen und an mir und an allen lebenden Verwandten, die ich hatte. Auch, wenn keiner von ihnen mich hatte bei sich aufnehmen wollen. Galina leckte mir noch einmal quer durch mein Gesicht, als wolle sie gerade den letzten Gedanken von mir abwischen, bevor sie sich wieder ihrem Heu zuwandte. Ich blieb neben ihrem Futtertrog sitzen, auch, als wenig später das Licht im Stall ausging und ich in der Dunkelheit sitzend darüber nachdachte, ob und wie ich das Sina und Julian erklären könnte. Ob sie mir zuhören würden. Schon seit dem Morgen ging mir wieder und wieder durch den Kopf, was Julian mir in einem Satz über seinen Vater erzählt hatte. Häusliche Gewalt. Mein Herz wurde noch einmal um das doppelte schwerer. Ich hatte seine Frau geschubst. Ich war mir ziemlich sicher, dass es keinen Menschen kannte, der mir das weniger leicht vergeben konnte. Als mein Handy leise in der Innentasche meiner Jacke summte, griff ich hinein, sah, dass Inga anrief und nahm widerstrebend ab.

Hey.", sagte ich zur Begrüßung ins Dunkel.

„Bereust du gestern oder warum antwortest du nicht? Ich dachte schon, sie hätten dir zur Strafe das Handy abgenommen."

„Gibt bisher keine Bestrafung. Schwebendes Verfahren und so.", erwiderte ich.

„Also doch Reue?"

„Quatsch, Ink." Ich rieb mir mit den Fingerspitzen meiner freien Hand fest über die Nase. „Nein, es ist nur...es ist nicht so einfach gerade. Nicht deinetwegen." Ich atmete tief in den Bauch, um ein verräterisch zitterndes Ausatmen zu verbergen.

„Nicht so einfach gerade? Soll ich kommen?"

Auf keinen Fall. Es war keine Option, dass sie hier war, wenn die anderen zurückkämen. „Ich habe hier ziemlich Stress, Inga.", sagte ich zu meinen Fußspitzen. „Ich habe was Dummes gemacht und..."

„Was soll das denn heißen?", unterbrach sie mich unsanft. „Lass dieses in Rätseln Gespreche. Ich rate nicht gern!"

„Ich rufe morgen an, okay?", gab ich zurück, weil der Gedanke, ausgerechnet Inga zu erzählen, was in der Nacht noch passiert war, unerträglich war.

„Lukas, blöde Idee! Du...", hörte ich sie ansetzen, aber ich legte auf, bevor sie weiterkam. 


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habe extra meine Sonntagslektüre unterbrochen, um euch noch mit einer dritten Wochenendmahlzeit versorgen zu können. Was sagt ihr? Krieg oder Frieden? ;)

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