Ich hatte mein Handy danach ausgemacht. Irgendwie hatte ich fast damit gerechnet, dass das Festnetztelefon klingeln würde, das Inga doch nochmal anrufen würde- aber niemand rief an. Die quälende Frage, ob ich mich richtig entschieden hatte, ob wirklich alles gesagt war oder ob ich gerade einen verdammt großen Fehler gemacht hatte, nagte so lange an mir, bis ich mir eine Regenjacke überzog, in den Stall ging und all die Dinge erledigte, bei denen einem der Wind die Regentropfen ins Gesicht drückte. Normalerweise wäre das wohl unangenehm gewesen, aber ich spürte lieber kaltes Wasser auf meiner Haut als nagenden Zweifel. Entsprechend übernahm ich den Kontrollgang zu den Jungpferden auf die allerhintersten Weiden, äppelte die Paddocks der Rentner ab, wischte ihre Tränken aus und hätte am liebsten Galina reingeholt, um ihrem Rücken das nasskalte Wetter zu ersparen. Allerdings sah die nicht einmal auf, als ich mit Halfter und Strick auf sie zukam. Stattdessen graste sie ruhig Seite an Seite mit Paula und als beide mich mit altersmildem Desinteresse bedachten, drehte ich wieder ab. Aus Galinas Sicht konnte Aufwärmen unterm Solarium sicherlich nicht mit dem Gras mithalten. Stattdessen schnappte ich mir Nikita. Reiten ließ ich ausfallen- bei pfeifendem Wind war mir nicht danach, sie ohne Paul oder Sina zu arbeiten. Stattdessen longierte ich sie und versuchte, die Überlegung, ob es nun doch einen Platz für sie in meinem Leben gab, das latente Hintergrundsurren in meinem Kopf übertönen zu lassen, dass von meinem ausgeschalteten Handy ausging. Allein die Tatsache, dass ich mich bei Regen und Wind nicht auf mein eigenes Pferd setzen wollte, sprach dann wohl doch eher dafür, dass sie bei Paul, der sicher keinen einzigen Gedanken an das Wetter verschwendet hätte, besser aufgehoben war. Als sie dann aber nach der Arbeit beim Putzen ihren Kopf nach mir umwandte, mit der Oberlippe nach meiner Hand wischte und innehielt, als ich ihr über die Stirn streichelte, als sie durchschnaufte und zaghaft die Augenlider sinken ließ, da war ich mir mit einem Schlag nicht mehr so sicher. Amateur. Kaum guckt das Pferd freundlich, bist du hin und weg. Egal, ob ich mich draufsetzen wollte oder nicht. Ich ächzte geschlagen, als ihr Kopf schwerer und schwerer wurde und ich mich dabei ertappte, wie ich meinen Blick wieder und wieder über die Stute schweifen ließ. Sie war zweifellos ein tolles Pferd. Langbeinig, sportlich, gut bemuskelt, fleißig, immer vorwärts- für jemanden, der sie wirklich reiten konnte- also für jemanden wie Paul oder Kim- musste sie ein Traumpferd sein. Ein echtes Traumpferd. Ihre Oberlippe wischte noch zwei, dreimal über meine Hand, bevor sie ihre Augen wieder aufmachte und mich ansah. Fragend, wie ich mir einbildete. Neugierig war vermutlich treffender.
„Ich nehme dich nicht mit. Du sollst mit Paul Sport machen.", sagte ich gleichermaßen zu ihr und zu mir und mein Blick blieb dabei an der kleinen Schnippe an ihrer Oberlippe hängen. „Mich bringst du nur ins Grab." Dem wenig überraschenden Ausbleiben einer Antwort begegnete ich mit einem Schulterzucken. „Kein Widerspruch ist Zustimmung, Fräulein N."
Nachmittags holte ich Kim vom Bahnhof ab. Es hatte aufgehört zu regnen, die Sonne kam durch und so selbstsicher und zufrieden, wie Kim auf mein Auto zukam, hatte ich sie schon eine Weile nicht mehr gesehen. Ich kam gar nicht dazu, sie darüber auszufragen, was sie bei Pia in Hamburg gemacht hatte, weil sie sofort von Pias Pony anfing. Ich musste ziemlich in meiner Erinnerung kramen, um zu Kims Freundin, der ich wenigstens ein Gesicht und eine Geschichte zuordnen konnte, auch das richtige Pony zu finden.
„Dressurpony, schwarz, todschick. Die hatte mit dem bei Papa Unterricht." Kim war kaum zu bremsen. Niro schien weiterhin ein schwarzes Dressurpony zu sein, allerdings eher kugelrund denn todschick. Außerdem, so erzählte Kim, ziemlich frech und ziemlich teuer. Ziemlich teuer war etwas, dass wohl auf jedes Pferd zutraf. Ich hatte immer gewusst, das Pferde nicht günstig waren, aber bis zu dem Moment, in dem ich damals überlegt hatte, Galina an meinen Studienort umzuziehen, hatte ich den Spaß nie durchgerechnet. Dieser Punkt war einer unter vielen Gründen, die dagegen sprachen, Nikita zu übernehmen. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass Sina und Julian das schon möglich machen würden, wenn ich das wollte. Gleichzeitig fühlte es sich nicht mehr richtig an. Mein Studium war durch. Irgendwann würden die monatlichen Finanzspritzen versiegen müssen. Ich hörte weiter zu, als Kim erzählte, dass Pia ihr Pony verkaufen musste- aber kaum verkaufen konnte. Eben, weil Niro in einem furchtbaren Trainingszustand war und gleichzeitig ein sehr waches Pony, dass nicht so richtig kindertauglich war. Zur Bestätigung hielt Kim mir ihren bläulich-schimmernden Ellbogen unter die Nase, den ich beiseiteschob, um die Straße sehen zu können. „Der Teufel hat mich abgesetzt." Außerdem gab es da eben Pias Geschichte. Kim musste sie mir nicht ein weiteres, ungezähltes Mal erzählen, damit sie mir präsent wurde. Das passierte fast jedes Mal automatisch, wenn sie von Pia sprach. Vielleicht, weil mir diese Geschichte näher kam, als mir lieb war. Ganz sicher, weil Pia die letzten Jahre bei ihrer Großmutter in Hamburg gewohnt hatte. Ganz sicher, weil ein Treppensturz Pias Leben verändert und das ihrer Mutter gekostet hatte. Es hatte keinen Brand gebraucht, um sie in eine Situation zu bringen, die meiner zu nah kam, um mir noch angenehm zu sein. Pia war Halbwaise- mit einem wenig brauchbaren Vater. Auch deshalb hatten Pia und ihre Mutter schon damals, als Pia noch bei uns Unterricht genommen hatte, nie viel Geld übrig gehabt. Es war ein offenes Geheimnis gewesen, dass nicht alle Reitstunden, die Julian gegeben hatte, auch bezahlt worden waren. Wäre sie nicht Kims Freundin gewesen und hätte Julian nicht gedacht, dass Pia mindestens so viel Talent für die Dressurreiterei mitbrachte wie ihre Mutter sich bemüht hatte, ihr das Pony zu finanzieren, dann hätte Niro kaum jahrelang bei uns gestanden.
Das sie jetzt, Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, nun wohl doch gezwungen war, das Pony wegzugeben, traf mich mehr als es sollte. Es war Pias Pony, nicht meins. Und Pia und ich- wir hatten kaum je mehr als zwei Sätze miteinander gesprochen. Vielleicht schlug ich deshalb einen verwegenen Plan vor, als ich auf die Hofeinfahrt abbog.
„Der Zwerg soll doch noch ein Pony bekommen, oder?"
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Könnt ihr den Nordwind auch schon spüren?
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Lieblingstag
Teen FictionInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...