Inga hatte beim Anblick des Familiengrabes, wo neben meinen Eltern auch meine Großeltern begraben lagen, ihre Schritte verlangsamt und meine Hand losgelassen. Sie war mit Abstand stehen geblieben und hatte mir diesen ersten Moment gegeben, in dem ich nie wusste, was ich fühlen sollte. Ganz am Anfang hatte ich nichts gespürt und mir eingeredet, dass dieser Ort bedeutungslos war. Dann hatte er mir die Füße weggezogen. Mittlerweile war es einfach schwierig, mal mehr, mal weniger. Mich machten die in den Vasen verwelkenden Blumen wütend, weil sich offensichtlich seit einer kleinen Ewigkeit niemand gekümmert hatte und das für mich in einem schmerzhaften Widerspruch zu der Inschrift stand, die in hellen Buchstaben unter den Namen meiner Eltern stand: „Das Leben endet, die Liebe nicht." Vielleicht war das so. Vielleicht war an dieser Weisheit irgendetwas dran. Vielleicht auch nicht. In diesem Augenblick, in dem der Regen unablässig auf mich herabfiel, meine Jacke durchweichte und in meinen Kragen lief, war mir jedenfalls einfach nur kalt. Ich bückte mich, um die gammeligen Blumen wegzuwerfen, als ich Ingas Schritte hinter mir hörte. Als ich mich zu ihr umwandte, war sie ziemlich blass und ihre Hände umklammerten den Strauß aus gelben Rosen und orangefarbenen Gerbera.
„Ich mache Platz dafür.", beantwortete ich ihre unausgesprochene Frage und ließ sie am Grab stehen, während ich die alten Blumen entsorgte und mit frischem Wasser wiederkam.
„Hast du den Spruch ausgesucht?", fragte sie, als ich ihr den Strauß abnahm.
„Ich habe nicht widersprochen."
„Wer hat ihn ausgesucht?"
„Meine Tante."
„Du hast eine Tante?", fragte sie ungläubig. „Wieso...?" Sie unterbrach sich selbst. Die Frage, wieso ich nicht bei der aufgewachsen war, war auch unausgesprochen da.
„Sie hat eigene Kinder- genug eigene Kinder." Ich steckte die Vase mit den Blumen in die nasse Erde. Meine Tante war schon so lange kein Thema mehr für mich, dass ich nicht über sie reden wollte. „Sie kümmert sich meistens um die Sache hier.", fügte ich an, richtete mich auf und drehte mich zu Inga um, deren Blick auf den Namen meiner Eltern klebte.
„Andreas und Anouk?"
„Ja."
Sie nickte langsam und ich sah, wie sie verarbeitete, dass meine Eltern Namen gehabt hatten- und ein Leben. Sie hatten wirklich existiert. Es war etwas, das selbst für mich mit jedem Tag weniger greifbar wurde. Und etwas, das diese Inschrift für mich so schwer erträglich machte.
„Anouk ist ziemlich ungewöhnlich.", sagte Inga und versuchte zu lächeln. „Ungewöhnlich und schön."
„Französische Wurzeln.", erwiderte ich einsilbig, weil ich die nächste Frage schon kannte.
„Das wusste ich nicht." Sie musterte mit offensichtlicher Überraschung den Namen meiner Mutter. „Woher aus Frankreich?"
„Weiß ich nicht." Ich presste die Lippen zusammen. Fragen kann ich sie das nicht mehr. Als Kind hatte für mich keine Bedeutung gehabt, wo genau in Frankreich eine meiner Großmütter geboren worden war. Heute traf mich, das ich es nicht mal eben in Erfahrung bringen konnte.
„Lukas..." Sie stellte sich hinter mich und legte ihr nasses Kinn auf meine noch viel nassere Jacke, bevor sie ihre Arme von hinten um mich schlang. „Es wurde wirklich Zeit, dass ich herkomme.", sagte sie dann mit einem Ausatmen dicht neben meinem Ohr und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die kalte Wange.
Danach standen wir schweigend im Regen, ihr Kinn auf meiner Schulter und mein Blick auf den Namen meiner Eltern, während meine Gedanken rasten.
„Bei manchen Dingen weiß ich, was sie gewollt hätten.", sagte ich nach einer langen Phase des Schweigens. „Bei dieser Sache habe ich keine Ahnung. Ich habe keine Ahnung, Ink."
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Lieblingstag
Roman pour AdolescentsInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...