Die nächsten Wochen rätselte ich, ob Sina mit ihm gesprochen hatte oder nicht. Er verschwand nach wie vor alle paar Nächte und gab sich dabei noch mehr Mühe als zuvor, unbemerkt zu verschwinden und ebenso unbemerkt wieder aufzutauchen. Gleichzeitig hatte er die Wohnungssuche scheinbar aufgegeben und ich fragte mich, ob er uns einfach bei Sina abgeben und bei seiner neuen Freundin einziehen würde. Irgendwie passte das zwar nicht zu ihm, aber die Heimlichtuerei ließ für mich keinen anderen Schluss zu. Wie falsch ich damit lag, erfuhr ich an einem Freitagmittag nach der Schule, als Sina und Julian uns in der Wohnung versammelten und bei Rosinenschnecken und Tee erklärten, dass die beiden in den letzten Wochen viel miteinander geredet und sich dazu entschlossen hatten, es noch einmal als Familie zu versuchen. Felix hatte diese Neuigkeit unbeeindruckt weggesteckt. Kim war vor Freude fast zusammengebrochen und hatte sich dann erst Sina und dann Julian weinend in die Arme geworfen. Sie schluchzte noch fast eine Stunde später erstickt in Julians T-Shirt und von ihrem biestigen Ich war nichts zu erkennen. Ich hatte mir nur fest vor die Stirn geschlagen, weil mir diese Möglichkeit nicht eine Sekunde lang in den Sinn gekommen war. Nicht einen Moment lang hatte ich es für möglich gehalten, dass Julian nachts ins Auto stieg, um zu Sina zu fahren. Ich hätte erwartet, dass er uns dann mitgenommen hätte. Ich hätte ganz sicher nicht erwartet, dass er heimlich zu ihr fuhr. Als ich ratlos fragte, wann sie den Entschluss gefasst hatten, klärte sich das alles auf. Irgendwann, kurz vor Sinas Unfall, hätten die beiden bemerkt haben, dass sie ohneeinander nicht wirklich besser konnten als miteinander. Sie hielten sehr vage, was sie damit meinten und ich traute mich nicht, nachzufragen. Seitdem hatten sie- zunächst ohne uns Kinder- versucht herauszufinden, ob es nochmal funktionieren konnte. So richtig ging das erstmal nicht in meinen Kopf, aber als ich am Nachmittag mit Julian zu seiner Mutter fuhr und wir dort nicht nur unsere, sondern auch Kims und Felix' Sachen ins Auto packten, um noch am selben Abend zurück nach Hause zu fahren, beschlich mich die Ahnung, dass ich vielleicht doch nicht der größte Unglücksrabe war, den es je gegeben hatte.
„Wir fahren in die Lombardei nach Italien." Ariana biss herzhaft von ihrem fingerdick mit Schokoladenaufstrich bestrichenem Brötchen ab. „Bestimmt gucken wir auch mal Mailand an." Sie wackelte zufrieden mit dem Kopf und nickte Inga zu. „Bei euch steht wieder Holland an?"
„Bei uns steht immer Holland an." Inga zuckte mit den Schultern, grinste aber. „Vielleicht fahre ich nächstes Mal nicht mehr mit. Wenn ich sechzehn bin, darf ich alleine zuhause bleiben."
„Aber Holland ist schön.", warf Nils ein und sein Blick verriet, dass er in erster Linie Inga schön fand.
„Holland ist ein Dorf, Nils. Wo fahrt ihr hin, Lukas?"
Gute Frage. Ich hatte am Rande mitbekommen, dass Lukas und Sina eigentlich mit uns wegfahren wollten, aber beide schienen dann doch bei dem Gedanken daran, den Stall für eine Woche den Angestellten zu überlassen, kalte Füße bekommen zu haben. „Weiß nicht. Ich glaube nicht, dass wir die Pferde alleine lassen."
„Da zertrümmern die Thestrale deiner Pflegemutter die Wirbelsäule und ihr müsst die trotzdem noch hüten.", murmelte Inga und schüttelte sich. „Wie geht's ihr?"
„Sie haben ihr nicht die Wirbelsäule zertrümmert und es geht ihr prima." Das stimmte bedingt. Sie und Julian waren vor ein paar Tagen für eine Namensänderung beim Standesamt gewesen und hatten danach das „Mertens & Feldmann" auf dem Klingelschild durch „Feldmann & Sachsenberg" ersetzt. Sie hatte seinen Namen angenommen und während das sicher dafür sprach, dass die beiden nicht schon wieder an Trennung dachten, hatte ich auch den Verdacht, dass Sina damit einen Neuanfang zu erzwingen versuchte, den sie dringend brauchte. Neuanfang war sowieso ein Stichwort. Sie hatte mich in der Springstunde im Reitverein angemeldet. Nicht zum Reiten lernen, wie sie nachdrücklich betont hatte, sondern um Kontakte zu knüpfen. Ich solle bitte kein Eremit werden. Die Aussicht, meine Freizeit in Zukunft mit Mädchen wie Laila verbringen zu müssen, verlieh allerdings der Vorstellung eines zurückgezogenen Lebens abseits der Zivilisation einiges an Reiz.
„Kann deine Mutter denn noch laufen? So mit zertrümmerter Wirbelsäule?", fragte Nils mich mit großen Augen.
„Pflegemutter.", zischte Inga warnend, bevor ich antworten konnte.
„Ich sage doch, ihrer Wirbelsäule geht es prima. Ink übertreibt."
„Ich übertreibe nicht. Die Information, die mir zur Verfügung stand, war inakkurat." Sie streckte mir die Zunge heraus und Ariane lachte.
„Alles klar, Inga."
Wir behakten uns friedlich während dieses Frühstücks am letzten Schultag und als am Ende der Stunde unser Klassenlehrer die Zeugnisse austeilte, uns schöne Ferien wünschte und uns bis zum neuen Schuljahr verabschiedete, brauchte ich einen Moment, um zu realisieren, dass ich in sechs Wochen wieder herkommen würde. Kein Schulwechsel, kein Umzug, kein gar nichts. Einfach Ferien.
„Sehen wir uns dann um sechs, Inga?", fragte Nils in die allgemeine Aufbruchsstimmung hinein und reckte euphorisch die Faust gen Himmel, als sie nickte. Hatte er ihr etwa ein Date aufgeschwatzt?
„Soll ich noch Sachen für die Pizza mitbringen? Oliven oder so?", fragte Ariane, während sie ihr Zeugnis pflichtbewusst in eine Klarsichthülle packte. Mit schlechtem Gewissen legte ich meines zwischen die Seiten meines Collegeblocks und ließ den schnell in meinem Rucksack verschwinden.
„Oliven müssen jetzt echt nicht sein.", schaltete sich sogar Alex ein und schüttelte sich sichtlich angewidert.
„Ist alles da. Meine Mutter hat vorgesorgt. Und ich glaube, wir werden mehr als ein Blech Pizza machen. Kein Stress also, Alex. Du kannst dir bestimmt eine olivenfreie Zone errichten."
Kein Date also. Trotzdem spürte ich einen leichten Stich zwischen meinen Rippen, als Inga mich zum Abschied umarmte, ein gutgelauntes „Bis nach dem Sommer, Fachsenberg" in mein Ohr raunte und Anstalten machte, gemeinsam mit Ariana in die Sommerferien zu gehen. Sie hatte echt Ernst gemacht. Sie hatte mich vor ein paar Tagen noch einmal gefragt, ob ich mit ins Freibad wollte und betont gleichmütig mit den Schultern gezuckt, als ich abgelehnt hatte. Jetzt wurde ich offenbar nicht mehr eingeladen. Ich biss meine Zähne zusammen und ging ihr und Ariana Richtung Fahrradkeller hinterher. Vielleicht hatte ich mich schneller zum Eremiten gemacht, als ich geahnt hatte. Mist. Dann würde ich aus der Sache mit der Springstunde nie wieder rauskommen. Und Lugar sprang noch schlechter als ich.
„Inga!", rief ich und schloss zu ihr und Ariana auf. „Ihr macht Pizza heute Abend?"
„Gut aufgepasst."
„Hm....", machte ich und Ariana sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Na toll. Ich nahm all meinen Mut zusammen, bevor ich mit trockenem Mund und viel zu schnell fragte: „Kann ich dazukommen?"
„Klar kannst du.", sagte Inga. „Wenn Selbsteinladen mehr dein Ding ist, als Einladungen anzunehmen, dann hättest du das auch einfach vorher sagen können."
„Ähm..." , machte ich nur verlegen, kam aber nicht mehr dazu, mir einen Konter zu überlegen.
„Sechs Uhr, bei mir. Die Adresse kennst du ja."
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Die Adresse kennt er ja 😎😎
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Lieblingstag
Roman pour AdolescentsInga hatte schon gezeichnet, als ich sie kennengelernt hatte. Sie war kein Picasso, aber was sie auf Papier brachte, das lebte. Asymmetrisch unperfekt, niemals seelenlos. Ihre Bilder waren, wie sie die Welt sah und ich hatte mich in diesen Skizzen v...