Kapitel 22: Tektonisches Beben (2)

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Pia


Paul, der wie ich über weite Strecken des Tages zu verkatert gewesen war, um viel zu essen, trank genüsslich einen Schluck Eiskaffee, bevor er sich wieder seinem Rührei auf Toast zuwandte. Jenny hatte recht gehabt, als sie mal gesagt hatte, Paul habe in verkatert die Geschmacksknospen einer schwangeren Frau- unberechenbar und verirrt. Wäre Jenny, mit der mich eine angestaubte Freundschaft aus Ponyzeiten verband, etwas zurückhaltender mit ihrer offensichtlichen Eifersucht auf Kim umgegangen, hätte ich ihr vielleicht geschrieben, dass ich den Beweis für ihre Behauptung gerade vor mir sah. So ließ ich es bleiben. Meine Loyalität gehörte Kim- und ganz sicher Paul.

„Ich liebe Berlin.", sagte er mit vollem Mund und nickte seinem Teller zu. „Um 23 Uhr im Café Rührei auf Toast mit Eiskaffee und nicht ein schräger Blick."

„Deswegen sind wir hier." Ich hatte das Café genau danach ausgesucht. Vielleicht auch ein bisschen, weil man auf dem Weg durch Schmargendorf fuhr- und ich den bescheuerten Gedanken gehabt hatte, dass es rein theoretisch möglich wäre, Lukas in der Bahn zu treffen. Ich war armselig. Mit einem Seufzen fischte ich sicher zum zwanzigsten Mal innerhalb der letzten zwanzig Minuten mein Handy aus der Tasche meines Hoodies.

„Pack das weg.", sagte Paul energisch und ich schaffte es gerade noch, meine Hand rechtzeitig aus seiner Reichweite zu bringen, als er danach griff. „Er meldet sich. Oder du meldest dich einfach bei ihm. Aber mache dir keinen Stress."

„Er hat mich geküsst und meldet sich nicht.", fauchte ich Paul gereizt an.

„Und du hast ihn geküsst und meldest dich nicht. Sein Bruder ist gestern Nacht spontan vor deiner Haustür aufgetaucht. Was ist deine Entschuldigung?"

„Das ich den ersten Schritt gemacht habe und keine Ahnung habe, was er darüber denkt."

Paul zuckte ungerührt mit den Schultern, bevor er sich wieder seinem Toast zuwandte. „Wenn du mich fragst..."

„Ich frage dich nicht.", fuhr ich ihn an, einfach nur, um meinen Frust an irgendwem auszulassen.

Paul grinste nur, schief und ein bisschen herablassend. „Ich glaube, er fand's ganz okay. Sah zumindest so aus, als hätte er es aushalten können."

„Miststück.", murrte ich. Paul war furchtbar. Er hatte mir, kaum, dass er Lukas zur Tür geschleift hatte, von Felix erzählt- und ich hatte es nicht glauben können. Ich hatte mich den Rest der Party über gefragt, warum Lukas' Bruder einfach vor meiner- ausgerechnet meiner- Wohnungstür aufgetaucht war. Ich fand keine Erklärung dafür, außer, dass er von zuhause abgehauen war. Und den Gedanken fand ich nicht zuletzt deshalb verdammt beunruhigend, weil er für Niro verantwortlich war. Irgendein mieses Bauchgefühl hatte keine zwanzig Minuten, nachdem Lukas von der Party abgehauen war, die Euphorie über diesen Kuss abflachen lassen. Und dabei war die Erinnerung an den Kuss sehr lebendig und sehr präsent gewesen- und ließ mich auch in diesem Moment sicherheitshalber Luft holen. Verdammt gut und verdammt unerwartet- so hatte ich es Paul beschrieben, als wir nach dem Aufräumen todmüde ins Bett gefallen waren. Weiter hatte ich ihm gegenüber nicht ausholen wollen. Vielleicht, weil ich insgeheim nicht nur euphorisches Kribbeln spürte. Mit jeder Stunde, die ich nichts von Lukas hörte, schnürte mir eine bis dahin unbekannte Angst die Kehle zu. Ich hatte vor der Party gewusst, dass ich lächerlich verknallt in Lukas war, aber ich hatte auch gedacht, dass meine Welt sich auch ohne ihn weiterdrehen würde, wenn sie müsste. Ich hatte gedacht, ich würde ihn küssen, wie ich Viktor geküsst hatte oder Niklas. Ich hatte ehrlicherweise erwartet, dass ich irgendwie die Kontrolle behalten würde, dass ich die Oberhand behalten würde- und mich hatte kalt erwischt, was ich gespürt hatte, als...

„Bist du okay?", fragte Paul und ich hörte echte Besorgnis in seiner Stimme, während mir gleichzeitig heiß und kalt wurde.

„Es stresst mich.", murmelte ich, zögerte und gab ihm dann mit einem ergebenen Stöhnen mein Handy. Ich musste nichts weiter sagen. Er steckte es kommentarlos in seine Jackentasche, außerhalb meiner Reichweite. „Wieso fühlt sich das so scheiße an?", murmelte ich, bevor ich meine Ellbogen aufstützte und nur mühsam der Versuchung widerstand, mir die Kapuze meines Pullis über den Kopf zu ziehen.

„Rufe ihn morgen früh an."

„Und was soll ich sagen?"

„Fragen, ob euer Kletterdate steht. Ihr klettert doch Sonntags zusammen, oder nicht?"

„Paul..."

„Pia...", ahmte er meinen leidenden Tonfall nach- und ich gab den Rest Körperspannung auf und sackte auf meinem Stuhl noch weiter zusammen. Ich hielt es nicht aus- und in meiner Vorstellung kam mein aktuelles Gefühl einem waschechten Drogenentzug verdammt nahe. Sogar mein Mund war trotz des Tees vor meiner Nase trocken. Ich mochte vor Paul nicht aussprechen, dass ich zwei Dinge nicht übereinander bringen konnte: das absolut unerwartete Gefühl, nie wieder jemand anderen küssen zu wollen- und die Panik, die sich damit einstellte. Und obwohl ich rein rational wusste, dass ich es aushalten würde, aushalten müsste, wenn Lukas anders fühlte, drehte sich mein Kopf nur um den Gedanken, dass dieser Kuss einfach richtig gewesen war. Es hatte geklickt- und mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Jetzt schwankte ich außer Balance im luftleeren Raum vor mich hin- und hatte Angst vor einem Absturz ins Bodenlose. Als ob er das auch ohne viele Worte meinerseits spüren würde, lud Paul mich auf meinen Ingwertee ein, schlang, kaum, dass ich beim Gehen meine Jacke übergezogen hatte, seinen Arm um meine Schultern und ließ mich auf dem Heimweg kaum einmal los. Er hakte nicht weiter nach, während ich mich fester als sonst an seine Seite schmiegte und in der Bahn meinen Kopf auf seiner Schulter ablegte. „Lenk mich ab.", murmelte ich irgendwann- und Paul kam meiner Bitte nach. Er erzählte von seinen Pferden und der herausragenden Form von Lolo, den Kim bis zum Jahresanfang noch geritten hatte, und seiner Fia. Und er räumte ein, verdammt nervös zu werden auf diesen letzten Metern vor den deutschen Meisterschaften. Das Turnier in Mannheim am kommenden Wochenende war quasi seine Generalprobe- und er hatte Angst, seine Glückssträhne könne abreißen. Normalerweise hätte ich ihm versichert, dass er nicht nur Glück hatte, sondern auch einfach gut war- aber stattdessen rutschte ich nur schweigend noch näher an ihn heran. Er seufzte, als er das spürte, kramte in seiner Jackentasche und reichte mir mein Handy, von dem ich fast vergessen hatte, dass er es eingesteckt hatte.

„Schreibe ihm, Pia. Jetzt. Mache dich nicht kaputt mit dem Gewarte. Das kann ich nicht mit ansehen."



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Wollt ihr Pia lieber in den Arm nehmen oder doch eher schütteln?

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