Kapitel 11: Bürde

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Part II


Inga


Zum dritten Mal ging ich ins Bad, stand vorm Spiegel und fuhr mit meiner Hand über meine stecknadelkurzen Haare. Ich hasste sie. Ich hasste sie aus tiefstem Herzen und ich hasste, dass Lukas sie sehen würde. Ich hasste, wie sich die entzündeten Stellen meiner Haut von meinem Rücken auf meinen Nacken vorgewagt hatten. Ich hasste, dass ich trotz der Sommerhitze eine lange Hose trug, weil ich meine Beine blutig gekratzt hatte. Ich hatte es nicht einmal bemerkt. Es musste in einer der zurückliegenden Nächte passiert sein. Ich legte meinen Kopf schief und rückte näher an den Spiegel, um meine Haut begutachten zu können. Wenigstens im Gesicht war sie wieder okay. Ich hatte ein paar Narben am Kinn zurückbehalten, aber die hatte ich direkt nach dem Duschen weggeschminkt. Darin war ich wirklich gut geworden im letzten Jahr. Mit dem Ergebnis konnte ich leben. Solange, wie er mir nicht zu nahe kam, war das ganz okay. Kritisch begutachtete ich meinen neuen Jumpsuit, den ich am Morgen noch notfallmäßig in die Wäsche gesteckt hatte, weil ich mir beim Frühstück meinen Cappuccino über die Beine geschüttet hatte. Ich hatte geflucht wie ein Droschkenkutscher und das nicht nur, weil heißer Kaffee auf der Haut verdammt wehtat, sondern weil er der Grund dafür gewesen war, dass meine Hände unruhig gezittert hatten. Schon beim Aufstehen hatte ich gewusst, dass ich mich nach dem Sport eine Stunde im Bad würde einschließen müssen, um wenigstens so auszusehen, dass ich es ertragen konnte, ihn direkt vor mir zu haben. Um ihm gerade ins Gesicht sehen zu können. Um mich so zu schminken, dass es aussah, als sei ich ungeschminkt. Vor einem Jahr noch hätte der Gedanke mir Tränen in die Augen getrieben, aber jetzt blieben meine Augen trocken. Tränen waren längst aus. Irgendwann zwischen der Trennung und dem Jetzt hatte ich mich leergeweint.

Mein Blick fiel auf den Ring an meinem Finger, den Mark mir geschenkt hatte - Platin mit Süßwasserperle. Zum Einzug in die gemeinsame Wohnung, zum Start in ein gemeinsames Leben. Obwohl der Ring wunderschön war und ja, nicht nur passte, sondern auch zu mir passte, war mir fast schlecht geworden als Mark mich damals mit einem erwartungsvollen Lächeln angestrahlt hatte, während er vor mir gestanden und mir dabei zugesehen hatte, wie ich mir den Ring an den Finger gesteckt hatte.

„Hübsch wie du." Das waren seine Worte gewesen. Aber auch: „Das passt nicht dazu." Während er das gesagt hatte, hatte er seinen Finger unter das dunkelbraune, filigrane Lederarmband mit dem kleinen Tintenfass geschoben, dass ich seit meinem achtzehnten Geburtstag beinahe jeden Tag getragen hatte. Er hatte zurückhaltend gelächelt dabei, aber ich hatte trotzdem verstanden, dass er das Armband nie wieder an meinem Handgelenk sehen wollte. Und das hatte er nicht.

Zögerlich griff ich in die kleine Box mit meinen Haargummis- die ich schon lange nicht mehr gebraucht hatte- und war erleichtert, als ich das kühle, kleine Tintenfass zwischen meinen Fingerspitzen spürte. Ich zog es heraus, hielt es in der Hand und war hin- und hergerissen, ob ich das Armband anziehen sollte. Es fühlte sich an wie ein Relikt aus vergangener Zeit und trotzdem war es das einzige Schmuckstück, dem ich nachgeweint hätte, wenn die Wohnung mal abgebrannt wäre. Wäre das zu viel? Zu gewollt? Zu offensichtlich? Ich legte es zurück. Wenn Lukas' Blick daran hängen bleiben sollte, dann würden seine Augen diesen Ausdruck annehmen, den sie immer bekamen, wenn er versuchte, bis auf den Grund der Dinge zu sehen. So beschrieb ich diesen Blick und diese Eigenschaft von ihm. Wenn er das Armband sehen würde, würde er den Kopf schieflegen. Seine Augen würden groß werden und er würde mir ins Gesicht sehen und versuchen herauszulesen, ob es noch eine Bedeutung für mich hatte. Ich wusste, dass ich diesen Blick nicht packen würde. Vermutlich würde ich den ganzen Abend nicht packen und ich fragte mich wieder und wieder, wieso ich diesem Treffen zugestimmt habe. Mark war übers Wochenende in die Heimat gefahren, um seine Familie zu besuchen und natürlich kam Lukas genau dann nach Berlin, wenn Mark unterwegs war. Natürlich hatte ich vorher von Juan erfahren, dass zwischen ihm und dieser sehr irren und irgendwie ganz hübschen Marie Schluss war und hatte sofort gemischte Gefühle gehabt- nicht nur, weil Lukas wieder Single war, sondern, weil Marie eben wirklich sehr irre war- und ich mir nicht sicher, ob er das eigentlich gewusst hatte, als er sich auf diese Sache eingelassen hatte. Eine Freundin von mir, die Marie aus dem Wohnheim kannte, hatte mich angerufen, als sie gehört hat, das ausgerechnet Lukas mit ihr zusammengekommen war. Sie hatte mich gefragt, ob ich da nicht etwas dagegen tun wolle oder könne. Ob wir ihn nicht warnen müssten. Sie sei doch extrem schwankend in ihrer Stimmung und verdammt eifersüchtig.

Ich hatte auf eine solche Warnung verzichtet. Dazu hatte ich zu deutlich jene WG-Party in Erinnerung gehabt, auf der wir uns begegnet waren und auf der sie ihn mit nach Hause genommen hatte. Sie hatte mich herausfordernd angestarrt, während sie ihm die Hände auf die Schultern gelegt hatte und ich hätte in dem Moment am liebsten geheult. Weil sie mich wütend gemacht hatte. Weil sie mich erfolgreich provoziert hatte und weil offensichtlich eine andere ihn anfasste und neben und mit ihm schlafen und spüren würde, wie er dabei Gänsehaut bekam. Selbst in diesem Moment im Badezimmer konnte ich beinahe spüren, wie sich die feinen Härchen auf seiner Haut aufstellten. Vor Marie war ich die einzige Frau unter der Sonne gewesen, die das über ihn gewusst und die das gespürt hatte. Die ihn gespürt und geschmeckt hatte. Nüchtern, betrunken, verkatert, in jeder Stimmungslage. Es hatte sich so lange wie eine Superkraft angefühlt, diese Frau zu sein. Ich ließ mich matt auf den Badewannenrand sinken und starrte mein Spiegelbild weiter an. Jetzt war alles anders.

Superkräfte hatte ich schon eine Weile nicht mehr. Sie waren mir verloren gegangen. Vor der Trennung, spätestens auf dieser Party, vor dieser Party. Geahnt hatte ich es schon lange vorher. Mein Spiegelbild zog die Augenbrauen so fest zusammen, dass sich eine steile Falte dazwischen bildete und ich versuchte, die Frau, die mir entgegenstarrte, mit der zu verbinden, die ich kannte und die vor einer kleinen Ewigkeit einem schwarzen Pony den Kopf gestreichelt hatte, um Lukas zu beeindrucken, obwohl sie dabei fast hyperventiliert hatte. Die so hatte tanzen können, dass sie ein glühendes Strahlen auf sein Gesicht hatte zaubern können. Damals hatte es sich angefühlt, als gäbe es nur eine Richtung für mich und uns- nach vorne und steil nach oben. Als wären wir unbesiegbar. Er war das vielleicht noch, aber für mich war die Luft dünn geworden, zu dünn neben ihm. Hätte ich den Rücktritt nicht angetreten, wäre ich kaputtgegangen. Und hätte ich es ihm erklärt, dann hätte er mich nicht gehen lassen.

Ich wusste genau, was ich auf die letzte Seite von diesem Skizzenbuch gemalt hatte. Und ich wusste, dass er es gesehen hatte und das er deswegen jeden Moment an der Haustür klingeln würde. Ich wusste, dass er mich irgendwann an diesem Abend noch fragen würde, wie die Trennung und diese Skizze zusammenpassten. Aber so sehr ich mir auch den ganzen Tag lang den Kopf darüber zerbrochen hatte, ich wusste dennoch nicht, was ich ihm antworten würde. 


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Na? Ist es in Ingas Kopf wie erwartet? 

LieblingstagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt