Kapitel 23: Tsunami (9)

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Lukas 


„Hey. Ich bin's."

Einige Sekunden herrschte Stille, dann hörte ich Hanna aufschluchzen.

„Nicht weinen.", flüsterte ich, blinzelte heftig und wusste nicht, wem von uns meine Worte eigentlich galten.

„Lu...", setzte sie an, bevor sie leise schniefte. Im Hintergrund hörte ich ihre Schritte und eine sich schließende Tür.

Ich schwieg und knetete meine Finger, während ich angespannt und sprachlos darauf wartete, dass sie ihre Worte wiederfand. Meine Kehle war wie zugeschnürt. „Wie geht es dir?", fragte ich schließlich in die Stille, obwohl sich in meiner Brust bei der Frage alles zusammenkrampfte.

„Gut." Sie holte deutlich hörbar Luft. „Scheiße, Lukas... Warum rufst du an? Wo bist du? Was machst du? Wer bist du?"

„Ich habe an dich gedacht.", antwortete ich wahrheitsgemäß, während ich abwesend in den stärker werdenden Nieselregen starrte. Ich vermisste sie. Bei all dem gegenseitigen Unverständnis, dass sich zwischen uns gestellt und in den letzten Jahren immer mehr an Größe gewonnen hatte, war ich froh, jetzt ihre Stimme zu hören.

„Wieso?"

„Soll ich nicht?"

„Natürlich sollst du." Sie schniefte wieder. „Es ist nur Jahre her. Ich habe keine Ahnung mehr, wie du überhaupt aussiehst."

„Ich weiß, Hanna."

Hanna war mittlerweile, das erzählte sie, als ich danach fragte, Referendarin in Hannover an einer Gesamtschule- für Englisch und Erkunde. Ich erinnerte mich noch lebhaft daran, dass sie in der sechsten Klasse Erdkunde mit Leib und Seele gehasst hatte und ihrer Lehrerin wenig schmeichelhafte Namen gegeben hatte. Für mich war schwer vorstellbar, dass sie sich selbst vor eine Klasse stellte, unterrichtete und irgendwen nach den sechzehn Bundesländern fragte. Vor vier Wochen hatte sie geheiratet und ich war nicht eingeladen gewesen. Ich machte ihr keinen Vorwurf, aber das Atmen wurde mit einem Schlag verdammt schwierig, als ich verstand, was ohne mich stattgefunden hatte. Meine Schwester hatte ohne mich geheiratet. Sie habe mich anrufen wollen und es irgendwie nicht getan, sagte sie. Sie brauchte mir das nicht zu erklären, damit ich es nachvollziehen konnte und trotzdem tat es weh.

„Hättest du mich angerufen?", fragte sie. „Wenn du geheiratet hättest?"

„Ich weiß nicht. Vielleicht.", murmelte ich wahrheitsgemäß. „Wahrscheinlich."

„Ich habe dich vermisst an dem Tag. Ich habe alle vermisst."

Ich hielt die Luft an, um nicht zu weinen und starrte angestrengt auf meine Fußspitzen, statt eine Antwort zu geben. Meine Socken waren klatschnass.

„Was macht deine Freundin?"

„Getrennt.", presste ich mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Schon länger."

„Inga, oder?", erinnerte Hanna sich. Die beiden hatten sich nie kennengelernt, aber ich hatte ihnen voneinander erzählt. Hanna hatte mich damals, ganz große Schwester, scherzhaft vor Frauen mit roten Haaren gewarnt. Ich hatte das vollkommen albern und absolut nicht lustig gefunden.

„Hmhm..."

„Wie lange seid ihr zusammen gewesen?"

„Lange.", sagte ich leise.

Eine Pause trat ein. „Muck?"

Ich konnte nicht antworten, als sie den Spitznamen aussprach, den meine Eltern früher für mich benutzt hatten. Es war ein unbeabsichtigter Tiefschlag mit Wirkung. Muck. Muck hatte mich seit dem Brand niemand mehr genannt und niemand, der in meinem Leben noch eine ernsthafte Rolle spielte, wusste überhaupt, dass ich diesen Spitznamen gehabt hatte.

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