Kapitel 6: Next Level (5)

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Es war mir gelungen, diesem Frühstück aus dem Weg zu gehen und ich hatte Sina hoch angerechnet, dass sie ihre Theorie entweder ganz für sich behalten oder wenigstens mich damit verschont hatte. Sie hatte sich sowieso für den Sommer eine neue Aufgabe gesucht, die sie mehr in Anspruch nahm, als vermeintliches Geknutschte von mir unter Straßenlaternen es je hätte tun können. Nach meiner bestandenen Abzeichenprüfung, bei der Lugar im A-Springen über sich hinausgewachsen war und mir eine wahnsinnige 8,5 geschenkt hatte, hatten Julian und Sina mir begeistert gratuliert und ich war dem selbstzufrieden schnaubenden Rappen immer wieder um den Hals gefallen. Sowohl Sina als auch die Reitlehrerein im Verein hatten alles daran gesetzt, mich davon zu überzeugen, die Teilprüfung Springen mit Kims Pony Lina zu reiten, aber ich hatte mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Ich hatte unter keinen Umständen diese Rakete reiten und mich dabei noch von Kim belehren lassen wollen. Eher hätte ich Lugar über die Sprünge gehoben und seinen mäßig ausgeprägten Arbeitseifer damit kompensiert. Aber er war wirklich über sich hinaus gewachsen. Umso härter hatte mich getroffen, als Julian mir noch am selben Abend vorsichtig gesagt hatte, dass meine Beine langsam doch zu lang für Lugar würden. Nicht, dass ich das nicht selbst gemerkt hätte, aber als er von einem gestörten optischen Eindruck gesprochen hatte, hatte ich trotzdem schlucken müssen und protestiert. So schlimm war es nicht. So klein war Lugar nicht und so lang waren meine Beine nicht. Erst als Julian mir mit einem süffisanten Grinsen und einem Zollstock demonstriert hatte, dass ich eher fünf als zehn Zentimeter kleiner war als er, hatte ich nachgegeben und zähneknirschend zugestimmt, als Sina vorgeschlagen hatte, sich auf die Suche nach einem Großpferd für mich zu machen. Also war ich ein paar Pferde Probe geritten und ich hatte bei uns im Stall einige Pferde ausprobiert, aber so richtig klickte es nicht und insgeheim hing mein Herz an dem starsinnigen Lugar. Kurz vor Ende der Sommerferien stand dann plötzlich ein neues Pferd im Stall. Eins, dass ich nicht ausprobiert hatte und das Sina irgendwo im Bekanntenkreis aufgegabelt hatte. Wo auch immer. Eine riesige, zu dünne, braune Stute, ohne Abzeichen, quasi ohne Schopf und mit zu großem, asymmetrischen Kopf fraß ihr Heu, als Sina Julian und mir den Neuzugang vorstellte. Julian, der beim Anblick der Stute fast zusammen, sprach die Frage aus, die ich mich nicht getraut hatte zu stellen und raufte sich dabei sichtlich verzweifelt die Haare. „Wo hast du die denn her? Vom Tierschutz?"

„Die ist ein Goldgriff. Warte ab.", verteidigte sie die Stute. „Gib mir ein paar Wochen, dem Mäuschen ein bisschen Futter und was für den Magen und dann wirst du sie nicht wiedererkennen. Dann hat Lukas da ein feines Pferd."

„Ein feines Pferd?", wiederholte er zweifelnd und ich gab ihm im Stillen recht. Die Rippen der Stute zeichneten sich zu deutlich unter ihrem Fell ab, als das sie als sportlich hätte durchgehen können und sie wirkte insgesamt irgendwie verwahrlost. Ihre Hufe waren zu lang und das ich das erkannte, wollte wirklich etwas heißen.

„Was sagen denn die Röntgenbilder?", fragte Julian mit zusammengezogenen Augenbrauen und schielte auf den langen Rücken der Stute. „Dein Mäuschen ist ein bisschen schief."

„Da war nichts gravierendes."

„Nichts gravierendes?", hakte er alarmiert nach.

„Ein paar Schönheitsfehler vielleicht", räumte Sina ein und hatte sich mir zugewandt, bevor sie weitersprach. „Sie ist fit auf den Beinen, klar im Kopf und hat ein Herz aus Gold. Die hat M gewonnen und die Kinder der Besitzerin durch den Wald geschaukelt. Als ich kurz draufgesessen habe, war ich schockverliebt. Warte ab."

Ratlos zuckte ich mit den Schultern und nickte stumm. Was blieb mir auch anderes übrig, als abzuwarten. Das Kind war längst in den Brunnen gefallen – oder das Pferd stand schon im Stall. Wie auch immer man es sehen wollte.

„Und wie heißt sie? Und was ist da drin?", fragte Julian widerwillig, der heraushörte, dass die Chancen, die Stute noch loszuwerden, schwanden. Ich starrte derweil mitleidig auf ihren hohen und knochigen Widerrist und der Gedanke, dass ich niemals ohne Sattel auf diesem Rücken sitzen wollte, drängte sich mir auf.

„Galina. Da ist Grosso Z drin und du fängst nicht an zu meckern, nur weil du den Hengst nicht magst.", hatte sie drohend gesagt und der Stute ein Leckerli zugesteckt. „Das wird, Lukas. Das wird richtig gut."

Ich glaubte ihr kein Wort, nickte aber. „Wird bestimmt super." Das klang so lahm wie der Flügelschlag eines ausgekühlten Insekts und Julian neben mir murmelte resigniert etwas von Generalüberholung. Wir beide waren unzufrieden und mir stellte sich unwillkürlich die Frage, ob Sina Kim je so ein Pferd hingestellt hätte und zum ersten Mal regte sich Widerstand in mir gegen eine vermeintliche Ungleichbehandlung. Ich hatte sehr klar für mich, dass es die echten Kinder und mich gab. So hatte ich es immer gewollt. Ich hatte immer gesagt, dass ich keine neuen Eltern brauchte oder wollte und gleichzeitig auch nicht der Sohn der beiden sein wollte. Sie akzeptierten das und ich hatte im Gegenzug nie erwartet, wie Kim oder Felix behandelt zu werden. Ich wollte diese Unterscheidung, weil ich mich in den letzten zwei Jahren mehr als einmal dabei erwischt hatte, wie ich Familie statt Pflegefamilie dachte oder sagte. Oder fühlte. Jedes Mal belegte mich das mit einem Schuldgefühl und jedes Mal blieb mehr davon an mir haften. Deswegen brauchte ich diese Linie, diese klare Trennung. Deswegen forcierte ich, dass ich einfach Lukas war, während gleichzeitig das Bild dieser dürren, braunen Stute neben Kims Sportpony Löcher in mein Herz fraß. 

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Pferdecontent und die doppelt aufgewühlte Gefühlswelt eines in die Länge gezogenen Lukas. 

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